Norman Ohler, Die Gleichung des Lebens : Roman. – Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2017. (978-3-462-04968-8)
In der Mitte des 18. Jahrhunderts gibt es an der Oder östlich von Berlin noch grosse Sumpfgebiete – den Oderbruch –, welche seit Jahrhunderten dünn besiedelt sind und wo Fische, Wasserschildkröten und Wasservögel in überwältigender Vielfalt vorkommen. König Friedrich II. (1712–1786), auch «Friedrich der Grosse» genannt, erkannte das riesige Potential der Kultivierung des Oderbruchs. In Zukunft sollten Kühe grasen, die Kartoffeln wachsen und fruchtbare Siedlungsfläche entstehen für Flüchtlinge und Untertanen aus dem riesigen Königreich Preussen. Durch die Gewährung absoluter Glaubensfreiheit holte Friedrich II. viele Exulanten, protestantische Flüchtlinge, in das Land. Unter seiner Herrschaft wurde der Landausbau ebenso rasch vorangetrieben wie die Besiedlung von unbesiedelten oder dünn besiedelten Gebieten wie dem Oderbruch.
Der Oberdeichbaumeister Simon Leonhard von Harlem erhielt den Auftrag, die Eindeichung der Oder und damit verbunden die Trockenlegung des Oderbruchs voranzutreiben, damit die ehrgeizigen Ziele erreicht werden können. Der Schweizer Mathematiker, Physiker und Ingenieur Leonard Euler, welcher von Friedrich II. an die königliche Preussische Akademie der Wissenschaften zu Berlin berufen wurde, hatte den Auftrag, die Planungen und Berechnungen des Oberdeichbaumeisters zu überprüfen. Verbunden mit diesem Auftrag war ein längerer Aufenthalt im Oderbruch.
In den frühen Morgenstunden vom 7. Juli 1747 entdeckte von Kurtz, der Aufseher des grossen Fischmarktes in Writzen, auf einer seiner routinemässigen Kontrollfahrten entlang des faulen Sees etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Als er begriff, was er sah, schlug sein Schrecken in blankes Entsetzen um. Wie ein Leichnam aussah, war nichts Neues für ihn. Doch dieser von Aalen und Raubfischen zerfressene, von Schwimmfarm zum Teil bedeckte Körper nahm ihm den Atem. Es war vor allem das Gesicht, das ihn so bestürzte. Denn der Mund des Toten stand weit offen, geradeso wie bei einem Schrei. «Sumpf» murmelt von Kurtz, «Sumpf». Es war die Leiche des französischen Ingenieurs F. K. Mahistre, welcher die Eindeichung der Oder leitete.
Bei seiner Recherche vor Ort taucht Leonard Euler ein in eine Welt von Traditionen und Ängsten im «Preussischen Amazonas». Euler merkt rasch, dass die wendischen Fischer, die seit Jahrhunderten von und mit dem Wasser, den Überflutungen und den Stechmücken leben, nicht begeistert sind vom Jahrhundert-Projekt. Die Fischer fürchten durch die Trockenlegung des Oderbruchs den Untergang ihrer Welt, ihrer Existenzen sowie den Verlust der Traditionen durch die Ansiedlung von Flüchtlingen und Untertanen. Inmitten seiner Ermittlungen gerät Leonard Euler selber in das Visier von dunklen Kräften. Nur die Begegnung mit Ode, der Tochter des einflussreichen Anführers der Familie Wenden, kann sein Leben noch retten.
Der von Norman Ohler hervorragend recherchierte Roman entführt den Leser in das 18 Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der Trockenlegung des Oderbruchs führt der Roman mitten in ein Gewirr von Ängsten vor dem Neuen, Entwicklungen, Veränderungen und Innovation, welche auch in der heutigen Zeit noch Gültigkeit haben.
Silvan Schneider, Bibliothek Stein AR