Denk ich an Kiew : Roman / Erin Litteken ; Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher. – Köln : Lübbe Verlag, 2022. (978-3-7857-2832-1)
Auch erhältlich als E-Book unter www.dibiost.ch.
In ihrem Debutroman widmet sich Erin Litteken einem dunklen, prägenden Kapitel der ukrainischen Geschichte, das weitgehend in Vergessenheit geraten ist – dem Holodomor: Unter der Herrschaft Stalins verhungerten in den 1930er-Jahren in der Ukraine rund vier Millionen Menschen, obwohl die Getreidespeicher voll waren. Die US-Amerikanerin mit ukrainischen Wurzeln rückt diesen weitgehend vergessenen Aspekt der Geschichte in unser Bewusstsein, einfühlsam und sehr bewegend.
Verlust, Leid und Hoffnung
USA, 2004: Cassie ist nach dem Unfalltod ihres Mannes in ihrer Trauer gefangen. Ihre Tochter hat den Unfall knapp überlebt, spricht aber seitdem nicht mehr. Um ihrer geliebten, an Demenz erkrankten Grossmutter Bobby zu helfen, zieht sie mit ihrer Tochter zu ihr. Mit der Begründung, wichtig sei die Zukunft, nicht die Vergangenheit, verweigert sich Bobby seit jeher allen Fragen zu ihrer Herkunft. Ein altes, in Leder gebundenes Tagebuch in kyrillischer Schrift weckt Cassies Interesse. Sie erhofft sich, in den Aufzeichnungen ihrer Großmutter endlich Antworten zu finden.
Ukraine, 1929: Bobby alias Katja wächst einfach aber behütet und geliebt in einem kleinen Dorf bei Kiew auf. Sie und ihre Schwester Alina arbeiten auf dem Hof ihrer Eltern mit – beide voller Pläne und Gedanken an eine blühende Zukunft. Mit dem Einmarsch von Stalins Männer in die Ukraine und der Verstaatlichung sämtlicher landwirtschaftlicher Flächen und Geräte ändert sich alles. Da längst nicht alle Menschen hinter Stalins Plänen standen, beginnt eine Schreckensherrschaft, die in einer großen Hungersnot mündet...
Vergangenheit und Gegenwart
Durch den lebendigen, ansprechenden Schreibstil wird man rasch in die Geschehnisse der Gegenwart hineingezogen und folgt zugleich gebannt dem Fortgang der höchst ereignisreichen und schockierenden Geschichte in der Vergangenheit. Erin Litteken schildert sehr anschaulich die Hintergründe für die systematische Ausrottung der ukrainischen Kultur und damaligen Geschehnisse rund um den Holodomor. Dank ihrer sorgfältigen Recherche vermittelt sie authentische Einblicke in die unvorstellbaren Zustände und das unsägliche Leid der Menschen. Am Beispiel von Cassies Grossmutter führt die Autorin vor Augen, wie diese traumatischen Erlebnisse die damaligen Überlebenden zeitlebens belastet haben. Zwar wurden die furchtbaren Erinnerungen oftmals verdrängt und der Familie verschwiegen, aber gerade im Alter kommen diese unaufhaltsam und ungefiltert wieder hoch.
«Ich hätte nie gedacht, dass die Veröffentlichung meines Romans über die Unterdrückung des ukrainischen Volkes in der Vergangenheit mit einer aktuellen Tragödie zusammenfallen würde», so die Autorin. «Denk ich an Kiew» ist ein eindringlich geschriebener historischer Roman, der erschüttert und nachwirkt. Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!
Manuela Fuchs, Bibliothek Stein AR