Lichtungen : Roman / Iris Wolff. – Stuttgart : Klett-Cotta, 2024. (978-3-6089-8770-6).
Erhältlich auch als E-Book unter www.dibiost.ch
Aus jedem Land aus Europa, das Kato neu bereist, schreibt sie Lev eine Postkarte. Eines Tages stehen auf der Karte bloss drei Worte: «Wann kommst du?»
Geschichte einer Freundschaft – im Rückwärtsgang
Diese drei Worte bilden den eigentlichen Auftakt für ein Wiedersehen zwischen Kato und Lev in Kapitel 9. Ja, korrekt, Kapitel 9, denn die Geschichte wird nicht linear, sondern im Rückwärtsgang erzählt. Dies entspricht ganz der Art, wie wir neue Menschen kennenlernen. Stimmt die Chemie, geben wir nach und nach Erinnerungen preis und reisen damit zurück in die Vergangenheit. So bewegt sich auch der Roman von der Weite der Gegenwart in die Enge der sozialistischen Vergangenheit in einem Vielvölkerstaat.
Erzählt wird die Geschichte von Lev und Kato, die seit ihrer Kindheit in einem rumänischen Dorf in einer ländlichen und waldreichen Gegend eine besondere Verbindung haben. Als der elfjährige Lev über Wochen ans Bett gefesselt ist, wird ihm ausgerechnet die gescheite, aber von allen gemiedene Kato mit Hausaufgaben ans Krankenbett geschickt. Kato hat keine Mutter und einen trinkenden Vater, während Lev seinen Vater durch einen Bergrutsch verlor, als er gerade mal fünf Jahre alt war. Zwischen den beiden Kindern entsteht eine unverbrüchliche Freundschaft. Unterschiede im Charakter, die unerschrockene und freiheitsliebende Kato im Vergleich zum sensiblen und zögerlichen Lev, prägen ihr Verhalten. Als die europäischen Grenzen sich öffnen, erweitern sich ihre Lebensentwürfe und ihre Beziehung verändert sich.
Kapitel für Kapitel führt die Geschichte schrittweise in die Vergangenheit des ungleichen Paares sowie ihrer Familien mit unterschiedlichen Herkünften zurück. Dafür bilden sogenannte Lichtungen, markante und prägende Erinnerungen, wie helle und klare Stellen im Wald, die Basis. Erlebnisse und Erfahrungen der Protagonistin und des Protagonisten werden herausgegriffen und so lernt man das Personal der Geschichte auf eine spannende Weise nach und nach in Episoden kennen.
Vielschichtig und tiefgründig
Die Hauptthemen des Romans sind vielschichtig und umfassen Herkunft und Identität, Aufbruch und Freiheit, Sehnsucht und Verlust, Erfahrungen als Minderheit, Leben in der Ceaușescu-Diktatur und die wechselvolle Beziehung zwischen den Hauptfiguren. Sehr poetisch und bildhaft wird beschrieben, wie sich das Leben in dieser Zeit anfühlen konnte. Grossvaters Erkenntnis «Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender» oder das Bild, wie einem die eigene Herkunft im Akzent, in Kleidern und Schuhen eingenäht ist, regen zum Nachdenken an. Man bekommt auch einen Eindruck vom Leben im freien Rumänien. Bereits von vielen verlassen, spielt die Frage, wer geht und wer bleibt eine zentrale Rolle. Das Land ist gekennzeichnet von viel Verfall, gleichzeitig wird aber auch eine herzliche Gastfreundschaft gelebt.
Trotz der eindringlichen Themen ist Iris Wolffs Erzählstil leicht und es fasziniert, mit welcher Dichte sie in wenigen Sätzen ganze Szenerien beschreiben kann, in deren intensive Atmosphäre man als Leser unweigerlich eintaucht. So fühlt man sich mittendrin, wenn sich Grossvater und Enkel in Wien portweintrinkend auf dem viel zu kleinen Balkon – die hinteren Stuhlbeine bleiben im Zimmer – nach geraumer Zeit wiederbegegnen. Manchmal schweigt die Autorin aber auch und buchstabiert nicht alles aus. Dies gibt den Leserinnen und Lesern Spielraum, die Emotionen der Romanfiguren oder ihre Handlungen selbst zu schlussfolgern.
Iris Wolff ist ein Roman gelungen, der sich durchaus lohnt, ein zweites Mal gelesen zu werden. Warum nicht in umgekehrter Richtung – von hinten (Kapitel 1) nach vorne?
Martina Koller, Volksbibliothek Appenzell