Munro, Alice. Himmel und Hölle : neun Erzählungen. - Frankfurt a.M.: Fischer, 2004.
(ISBN 3-10-048819-9)
„Liebe, für die es keine Verwendung mehr gab, die sich bescheiden musste.“ ist das Fazit aus „Nesseln“, einer der neun Erzählungen von Alice Munro. Eine Kinderliebe, die so selbstverständlich für ewig gedacht war, endet mit einem abrupten Abschied. Als sich die Beiden nach vielen Jahren zufällig wieder begegnen, entwickelt sich die anfängliche Unsicherheit in knisternde Erwartung, die jäh abstirbt, nachdem der Mann erzählt, wie ihn ein furchtbares Unglück die Hölle sehen liess. „Und es setzte wieder ein.
Mit voller Wucht, das Zähneklappern, das Zittern, das Zersplittern der Wörter.“ Diese grauenhafte Hilflosigkeit überkommt Nina in „Trost“ im Bestattungsinstitut, als sie den Wunsch ihres Gatten um sofortige Einäscherung ohne Abschiedsfeier mitzuteilen versucht. Ihr Mann hat sich bei fortgeschrittener unheilbarer Krankheit umgebracht. Er war ein starker, unbeirrbarer Mann gewesen. Seine unumstösslichen Prinzipien haben ihn seine Stelle als Lehrer für Naturwissenschaft in einer bigotten Gemeinde gekostet. Nina, die eine tiefe, komplizierte Liebe zu Lewis verband, verstreut seine Asche zwischen Pflanzen am Strassenrand. Es kommt ihr vor wie „das Hineinwaten in den See für das erste eisige Bad im Juni und sich dann ins Wasser stürzen“.
Die Autorin Alice Munro
ist 1932 in Ontario geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Für ihre zehn Erzählbände ist sie mit mehreren Preisen geehrt worden; für ihren (einzigen) Roman „die Liebe einer Frau“ wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award und dem Giller Prize ausgezeichnet. In Kanada und im angelsächsischen Raum ist sie Bestsellerautorin; ihre Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.
In allen neun Erzählungen schildert Alice Munro einen scheinbar harmlosen Alltag. Es sind stille Geschichten, bis sich durch eine plötzliche Wendung seelische Abgründe auftun. Man gerät unmittelbar in den Sog einer leisen Katastrophe. Munro hat das untrügliche Gespür für zwischenmenschliche Misstöne und Unheilvolles. Sie weiss Orte und Situationen wunderbar und detailgenau – und Gefühle umso beklemmender zu beschreiben. Die Leserin, der Leser ist gefangen von schicksalhaften Beziehungen, erahnten Familiengeheimnissen, von grosser Liebe und seltsamen Sehnsüchten, von momentanem kühnem Ausbrechen aus dem Lebensmuster, von eingestandener und verdrängter Schuld, von beklemmender Angst, von Krankheit und Tod. Man erlebt auch, wie ein einziger lichter Moment zu trösten und ein ganzes düsteres Leben zu erhellen vermag.
Elisabeth Siller, Dorfbibliothek Herisau