Senn, Jakob. Hans Grünauer : ein Roman ; mit einem Nachwort von Matthias Peter. - Zürich : Limmat Verlag, 2006.
(ISBN 3-85791-507-2)
Hans Grünauer wird Schriftsteller
Mit schöner Regelmässigkeit haben in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bald die Verleger, bald die Radiomacher, bald die Volkstheater-Regisseure sich angestrengt, das literarische Erbe der beiden Zürcher Oberländer Schriftsteller Jakob Stutz und Jakob Senn im Gedächtnis der Zeitge-nossen zu halten. Die Anstrengung dauert in unser Jahrhundert hinein fort: vor fünf Jahren sind Stutz' "Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben" – nach dem Winterthurer Verleger Vogel – von Huber in Frauenfeld neu aufgelegt worden; und soeben ist Senns "Hans Grünauer" – vormals bei Rohr in Zürich – vom Limmat Verlag wiederediert worden, nachgewortet vom St. Galler Publizisten (und Leiter der Kellerbühne) Matthias Peter.
Der Lesegewinn aus den beiden Lebensstoff verarbeitenden Büchern ist vergleichbar. Wir nehmen teil an weitschweifigen Schilderungen eines Lebensganges, am Gedankengut und Wertesystem vor und um die Mitte des 19. Jahrhunderts, an Bedingungen der Selbstdarstellung vor rund 150 Jahren. In der deutschsprachigen Schweiz dürften dafür Jeremias Gotthelfs "Bauernspiegel" (1836) und Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich" (erste Fassung 1853-1855, zweite Fassung 1879/80) musterbildend ge-wirkt haben. Jedenfalls ist in allen genannten Romanwerken die Sozialgeschichte einer Kindheit, eines Aufwachsens, einer Persönlichkeitsentfaltung zentral. Während aber Gotthelfs Erstling harsche Kritik an den Zeitum- bzw. –missständen übt und während Kellers Bildungsroman vom Autobiographischen mehr und mehr ins Allgemeingültige gleitet, bleibt Stutz' "Selberlebensbeschreibung" und bleibt Senns Romantisierung eines Werdeganges auf dem literarischen Niveau von Lebensbildern: volkskundlich interessant und privatgeschichtlich anrührend.
Unterwegs ins Land und Leben
Nicht zuletzt die Reiseberichte wirken bis auf den heutigen Tag einnehmend. Nach Winterthur, Wil (St. Gallen), nach Elgg und Einsiedeln führt uns Jakob Stutz; nach Fischingen, Bauma, Wängi und Uster, nach Rapperswil und Zürich geleitet uns Jakob Senn. Insofern sind sie auch Heimatbücher, allerdings mit beschränktem Rayon; Ulrich Bräker – ein Jahrhundert früher – reist, wandert und wallt entschieden weiter herum. Und beobachtet schärfer.
Jakob Senns Jahre 1864 bis 1868 in St. Gallen, wo er, als Wirt, lebt und schriftstellert, und seine Jahre 1868 bis 1878 in Südamerika (Uruguay) schlagen sich in der Lebensgeschichte nicht nieder. 1863 ist das Manuskript vollendet, der Verfasser unterstellt es nebst rührendem Brief Gottfried Kellers Urteil, das Skriptum bleibt bis 1888 ungedruckt. Inzwischen ist Senn in den wirt- und gesellschaftlichen Ver-hältnissen seiner Zeit – laut Urs Boeschenstein – "vor die Hunde" gegangen: umgetrieben, entmutigt, verunsichert, müde. Aus dem Weberkind der Tösstaler Landschaft ist kein Musenliebling mit landes-weitem Renommee geworden. Senn sucht 1879 in der Limmat seinen Tod.
Unsere Achtung kommt zu spät
Ob und allenfalls wie Keller das Skriptum beurteilt hat, darüber wissen wir nichts. Vielleicht hätte er, Erster Zürcher Staatsschreiber, Senn auf ein Postament helfen können. In der Wahl des Buchum-schlags für die Neuauflage steckt darum ein süssbitterer Zug: der grün kartonierte Band ist einge-schlagen in Kellers Aquarell von 1842/43, betitelt "Landschaft mit Gewitterstimmung". Für unser Ge-denken an den Volksschriftsteller Jakob Senn ist durch die Neuauflage des "Hans Grünauer" (vor-mals: "Ein Kind des Volkes") das Nötige getan; man möchte wünschen, es seien auch die Enttäu-schungen des literarisch streberischen Autodidakten aus Fischenthal wettgemacht, indem hierzulande sein Hauptstück in den Dorf- und Gemeindebibliotheken ab sofort zur Ausleihe stehe.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute