Steimann, Flavio. Bajass. Roman. – Hamburg: Nautilus, 2014.
(ISBN 978-3-89401-797-2)
Lesen statt klettern. Zu Flavio Steimanns „Bajass“-Roman
Sechs Jahre her, dass Hugo Loetscher gestorben ist. Seine „Aufsätze zur literarischen Schweiz“ waren da bereits eine schöne Zeitlang veröffentlicht: Arbeiten seit 1970, ein Längsschnitt über mehr als drei Jahrzehnte hinweg, knapp die Hälfte der Beiträge vor 2003 nicht publiziert. Essays über Glauser, über Hohl, über den Walliser Chappaz, den Waadtländer Chessex, den Toggenburger Max Rychner.
Loetschers provokanter Buchtitel „Lesen statt klettern“ gehört in erster Linie zum Aufsatz über Ludwig Hohl. Wer in dessen Jugendtagebüchern gelesen hätte, weiss, dass für den jungen Hohl längerhin auch die Umkehrung des Appells hätte gelten können: Klettern statt lesen. Tatsächlich bedeutete dem Siebzehnjährigen, im Gebirge unterwegs zu sein (im Glarnerland, im Bündnerland), das halbe Leben. „Halb“ sage ich deshalb, weil der Frauenfelder Kantonsschüler in anderen Phasen seiner Gymnasialjahre extensiv liest (nicht klettert). Übrigens auch bereits viel und vielerlei schreibt, nicht zuletzt Briefe in alle vier Windrichtungen; dementsprechend gehört Hohl kategorisch nicht in Holder / Pehnt / Staigers kürzlich erschienene, kuriose „Bibliothek der ungeschriebenen Bücher“ (Piper, München 2014) – im Gegensatz zu Rolf Lappert, Angelika Overath, Jürg Schubiger, die darin vorkommen. Also rücksichtslos Hohl lesen, statt zum Beispiel im Bergell klettern… Oder eben
das „Bajass“-Buch lesen –
über den Atlantik sich fahren lassen statt vom Säntis über den sulzig gewordenen Blauen Schnee gleiten… Einen abscheulichen Mordfall auf dem Dorf ernstnehmen statt in Buchten von Myanmar/Burma schnorcheln… Den „Bajass“-Autor könnte man durchaus noch kennen. Könnte anhand der voraufgegangenen Erzählungen sich vergewissern, es lohne sich die Lektüre auch von Flavio Steimanns dritter Prosa unbedingt. 1987 hat der Luzerner Theatermacher, Jahrgang 1945, „Aperwind“ erzählt, Bilder vom Niedergang eines Kurbades; ein Jahr davor hat er „Passgang“ vorgelegt, Stationen eines Halt um Halt verlierenden Menschen.
Im jüngst erschienenen Kurzroman mit dem wiederum spartanischen, zum dritten Mal poetisch aufladbaren Titel hat der Ermittler Albin Justus Hektor Gauch (also der Hellhäutige oder Weisshaarige und der Rechtschaffene und derjenige, der in Besitz hat, hatte oder hätte haben dürfen, endlich der arme Tropf) – hat also Gauch nur vordergründig die Hauptrolle inne. Das Buch heisst ja konsequent nicht „Gauch“. Vielmehr suggeriert der Buchtitel „Bajass“, wir hätten uns einen Hanswurst, einen Spassvogel, eine Spottgeburt einzubilden. Und diesen dann eben nicht mehr als Ermittler Gauch zu verstehen, sondern als des Ermittlers Such-Figur, nämlich als einen in Knabenjahren Ausgenutzten und Verprügelten, Jahrzehnte später dann als Delinquenten, der seine Pflegeltern ermordet – um eine Ordnung, die ihm gehört hätte, wiederherzustellen –, zuletzt als einen Flüchtigen, welcher nach der entsetzlichen Tat das Innerschweizer Dorf verlässt und – um dem herzlosen Biotop seines Herkommens zu entrinnen – übersee abhaut.
Aug um Auge?
Nein, Steimanns Buch räsonniert nicht über Vergeltung. Und jedenfalls ist es kein Kriminalroman, worin ein altersgrüblerischer, bresthafter Detektiv wider Willen in seinen provisorisch letzten Fall verwickelt wird. „Bajass“ ist ein Sittengemälde auf hierzulande seltenem stilistischem Niveau. Der Stoff tritt aus einer um mindestens hundert Jahre zurückversetzten Epoche an uns heran: erschütternd in seiner Archaik, reich an expressiven Szenen, einprägsam aufgrund seiner Drastik. Weil die Erzählung uns bei allem Geheimnis, das sie bewahrt, einem Zahn-um-Zahn-Geschehen aussetzt und weil sie uns gegen die „wie du mir, so ich dir“-Mechanik aufbringt, traue ich dem schmalen Buch zu, dass es unser Gerechtigkeitsempfinden, mithin unser Weltbild nuanciert. Man möchte bedauern, dass Steimanns Prosa für einen Schweizer Buchpreis nicht
in Betracht kommt.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute