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Minelli, Michèle. Die Verlorene ; Roman. – Berlin : Aufbau-Verlag Berlin,  2015.
(ISBN 978-3-351-03595-2)

Die Verlorene

"Wie ich nun gar einsehen musste, dass ich das angstvoll gehütete Geheimnis preisgeben müsse und die Schande nicht mehr länger verheimlichen könne, gewann jener schreckliche Gedanke alle Macht über mich. Es ist entsetzlich, was ich tat, aber ich flehe Ihre Barmherzigkeit an, mir die Gnade des Lebens zu schenken. Die Unglückliche. Frieda Keller".

Im Jahr 1904 wurde in St. Gallen die ledige Schneiderin Frieda Keller wegen Mordes an ihrem kleinen Sohn zum Tode verurteilt. Auf ihr Gnadengesuch hin wurde die Strafe in lebenslange Haft umgewandelt, von denen die Gefangene 15 Jahre absitzen musste, teilweise in strenger Einzelhaft.

Über Frauengeschicke bestimmen stets Männer In «Die Verlorene» erzählt Michèle Minelli diese gut dokumentierte Geschichte der Frieda Keller, die in die Mühlen einer männerbestimmten Justiz geriet. Diese lud alle Schuld der Frau auf, den Vergewaltiger entlastete sie völlig. Auch wurden weder soziale, psychische oder finanzielle Gründe, die zur Tat beitrugen, in der Urteilsfindung berücksichtigt. Tatsächlich sind es immer Männer, die in Frieda Kellers Leben das Sagen haben: Erst ist es ihr strenger Vater, der ihre Freiheit beschneidet, dann der Dienstherr, der sie schwängert und die jugendliche, ledige Frau ins Chaos stürzt. Später sprechen männliche Richter die verzweifelte Kindsmörderin schuldig, und Gefängniswärter verhalten sich während vieler Jahre mitleidlos.

Die Kindsmörderin Frieda Keller hingegen musste selber sehen, wie sie sich durchschlug. Der Vater verstiess sie, weil er die Schande einer unehelichen Niederkunft seiner Tochter nicht ertragen konnte. Aber auch Frieda Keller selbst ertrug den ihr durch die zeitgenössischen Moralvorstellungen auferlegten Druck nicht. Sie gab den Säugling in die «Kinderbewahranstalt» Tempelacker ab, um den „Ernstli“ vor Familie und Freundinnen zu verbergen und um für ihre Existenz arbeiten zu können. Die Last und der Druck ein totgeschwiegenes Kind zu haben, wurden jedoch immer grösser. Ihre schwierige soziale Lage als Hilfsschneiderin mit einem geringen Einkommen verstärkte die Verzweiflung.

Ein historischer Roman Die Zürcher Schriftstellerin hat einen spannenden und einfühlsamen historischen Roman geschrieben. Das Buch öffnet den Blick auf die familiären, gesellschaftlichen, sozialen und moralischen Verhältnisse anfangs des 20. Jahrhunderts in der Ostschweiz. Die Rechtsgrundlagen der damaligen Zeit und die Praxis im Strafvollzug sind gut recherchiert und werden anschaulich und eindrücklich dargestellt. Atmosphärisch lässt Michèle Minelli eine vergangene Zeit wiederauferstehen. Der Roman, der auf zahlreichen Originaldokumenten basiert und diese auch zitiert, verwendet auch die Sprache dieser Zeit so authentisch wie möglich.

Die Schriftstellerin Michèle Minelli Michèle Minelli, geb.1968 in Zürich, veröffentlichte mehrere Sachbücher, u. a. über das Asylland Schweiz, eine Reisereportage und den Roman "Adeline, grün und blau" (2009). Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien, drehte Dokumentarfilme und arbeitet als Dozentin für kreatives Schreiben in Zürich.

Gabrielle Brun, Bibliothek Teufen

 

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