Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Nicholls, David. Keine weiteren Fragen. - Zürich : Kein & Aber, 2005.
(ISBN 3-0369-5129-6)
Als 2003 David Nicholls Erstlingsroman (Originaltitel: Starter for Ten) in Grossbritannien erschien, dauerte es nicht lange bis er zum Verkaufsschlager wurde. Tom Hanks sicherte sich rasch die Filmrechte, verständlich, da die Hauptfigur wunderbar gezeichnet wird und dem Leser schon nach den ersten Seiten ans Herz wächst. Dank des Verlags Kein und Aber liegt dieser Roman nun in der deutschen Übersetzung in den Regalen der Buchhandlungen und so kommen auch wir in den Genuss den jungen Brian Jackson kennen zu lernen, der mehr vom Leben will und immer wieder über die eigenen Füsse stolpert.
Brian Jackson hat gerade sein Studium begonnen und möchte sich ein Leben aufbauen, das sich um Wissen, Kunst, Literatur und selbstbewusste Frauen dreht. Zweifellos hat er sich seine Ziele besonders hoch gesteckt, und so scheint sein Scheitern beinahe vorprogrammiert zu sein.
Seine Mitbewohner nehmen ihn von Anfang an nicht ernst und die immer schwarz gekleidete Rebecca argumentiert ihn mit Leichtigkeit an die Wand. Kneipen und Partys ziehen ihn magisch an, was seine Leistungen im Studium nicht gerade fördert.
Bereits während der ersten Party verliebt er sich hoffnungslos in die bildhübsche Alice. Obwohl Brian sich intensiv bemüht als komplexe, mysteriöse Persönlichkeit aufzutreten, reagiert die Angebetete nicht wie gewünscht auf seine Verführungskünste. Deshalb überlegt er sich einen todsicheren Plan, um ein für alle Mal ihr Herz zu erobern. Beim intellektuellen Wissensquiz „University Challenge“ möchte er die gesamte Fernsehnation, vor allem aber seine grosse Liebe, in ungläubiges Staunen versetzen. Es ist sein grösster Wunsch an diesem Quiz, den er sich als kleiner Junge mit seinem früh verstorbenen Vater immer angeschaut hat, mit seinem fundierten Wissen zu brillieren. Bei der Durchführung seines Plans stolpert Brian von einem Fettnäpfchen ins nächste, denn es kommt wieder einmal alles anders als vorgesehen.
Mehr von der Handlung zu verraten würde das Lesevergnügen schmälern. Brian kommentiert das Geschehen mit unschlagbarer Selbstironie. Er zeigt uns auf eine sympathische Art wie fehlerhafte Selbsteinschätzung, tiefe Gefühle, zu viel Alkohol und zu wenig Geld in einer Mischung zusammentreffen können, die notgedrungen auf Herzschmerz und Chaos hinauslaufen muss. Bei alldem macht sich Nicholls jedoch niemals auf Kosten seines Helden lustig, vielmehr wird immer wieder deutlich, wie sehr ihm dieser Aussenseiter am Herzen liegt.
Wer sich nun denkt, nicht schon wieder ein belangloser Roman übers Erwachsenwerden und individueller Selbstfindung wird bald eines Besseren belehrt. Nicholls steht als Schriftsteller ganz in der Tradition zeitgenössischer britischer Autoren. Wie Nick Hornby lässt er seinen Protagonisten mit den Tücken des Lebens kämpfen und jeden Fauxpas durch Selbstironie kommentieren. Der typisch britische Humor, der leger-witzige Schreibstil garantieren ein wahres Lesevergnügen. Oft kann man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn wir werden an unsere eigenen Kämpfe mit den Hindernissen und Tücken aus dieser Lebensphase erinnert.
Monika Rupp, Gemeindebibliothek Teufen
Laforet, Carmen. Nada. - Berlin : Claassen, 2005.
(ISBN 3-546-00394-2)
Die Freiheit in der Grossstadt
Mit einem Koffer voller Bücher und Träume und mit unbändigem Lebenshunger trifft die Waise Andrea in Barcelona der Vierziger Jahre ein. Die Studentin wartet begierig auf die grosse Freiheit und Unabhängigkeit in der Grossstadt. Infolge des Spanischen Bürgerkrieges zeigt Barcelona aber lediglich seinen vergangenen Glanz. Das Leben bei den verarmten Verwandten reisst Andrea aus ihrer Traumwelt. Eine düstere Realität macht sich breit. Da ist die bigotte, unerbittliche Tante Angustias mit den hohen moralischen Ansprüchen, die Andrea fast ersticken. Da ist Onkel Juan, der sich für einen grossen Maler hält und leicht die Nerven verliert. Seine Wutausbrüche aus Hilflosigkeit und Rache führen zu brutalen Handgreiflichkeiten mit seiner hübschen und naiven Frau Gloria. Sein Bruder Roman schwankt zwischen Genie und Wahnsinn. Mit seiner Boshaftigkeit provoziert er die Familienmitglieder, ihre Frustrationen in heftigen Streitereien auszuleben. Die liebenswürdige, alte und verwirrte Grossmutter steht unfreiwillig mitten in den neurotischen Auseinandersetzungen, denen sie in ihrer Güte mit Verständnis und Verzeihen begegnet. Die Wechselbäder von Emotionen und Ausbrüchen ihrer Verwandten stürzen Andrea in tiefe Melancholie. Sie erlebt eine Welt nie gekannter Armut und Hoffnungslosigkeit. Nach und nach stösst sie auf die Abgründe jedes einzelnen Familienmitglieds.
An der Universität lernt Andrea die geheimnisvolle Ena kennen. Die Freundschaft mit ihr lässt sie wieder etwas aufleben. Sie geniesst die Aufenthalte in Enas wohlhabender Familie. Ena wird immer fremder, unergründlicher. Langsam kommt Andrea hinter das schicksalhafte Geheimnis ihrer Freundin. Nach einem langen, prägenden Jahr verlässt Andrea Barcelona und folgt Ena nach Madrid.
Die Autorin Carmen Laforet
ist 1921 in Barcelona geboren. Kindheit und Jugendzeit verbrachte sie auf den Kanarischen Inseln. Mit 18 kehrte sie wie ihre Protagonistin in ihre Heimatstadt zurück. Drei Jahre später brach sie das Studium ab und lebte von da an in Madrid. Gleich ihr erster Roman wurde 1945 zur Sensation. Für „Nada“ erhielt sie die wichtigste literarische Auszeichnung Spaniens, den Nadal-Preis. Sie schrieb 8 Romane und starb 2004 mit 83 Jahren.
Heute ist „Nada“ wiederentdeckt worden und begeistert in der Übersetzung von Susanne Lange und mit dem Nachwort von Mario Vargas Llosa Leserinnen und Leser von Neuem. Mit ihrer schönen und klaren Sprache gelang es Carmen Laforet, die damalige Zeit in tief beeindruckenden Bildern aufzuzeigen und die Figuren mit ihren Gefühlen und Empfindungen lebendig zu machen. Sie schildert brillant, wie der Bürgerkrieg die Menschen zu Opfern ihrer Lebenssituation gemacht hat, wie sich ihre einstigen Träume verloren in Enttäuschung und im Verlust der Selbstachtung. Dem Leser, der Leserin wird zutiefst bewusst, was alles Kriege bewirken und wie unendlich viel Freiheit bedeutet.
Nada (nichts) ist das Buch keineswegs – es ist ein grossartiges Leseerlebnis!
Elisabeth Siller, Dorfbibliothek Herisau
Churfirsten : über sieben Berge ; hrsg. von Emil Zopfi. - Zürich : AS Verlag, 2006. (Bergmonografie, Bd 14.)
(ISBN 3-909111-22-X)
Kurfürsten – Kuhfirsten – Churfirsten
Wie gut kennen wir unsere Nachbarn? Wussten Sie, dass es in den Churfirsten noch Goldschrecken gibt, die dort die Eiszeit überleben konnten, oder dass der Serenbachfall unterhalb Amdens als einer der höchsten Wasserfälle Europas gilt und an dessen Fuss die gewaltige Rinquelle aus dem Fels hervortritt, die ein riesiges unterirdisches Höhlensystem unter den Churfirsten entwässert?
Herausgeber der hervorragend bebilderten Bergmonografie über die Churfirsten ist Bergsteiger und Krimiautor Emil Zopfi. Uns präsentieren sich Chäserrugg, Brisi, Frümsel und Co. als steile Grashänge. Ganz anders die Sicht aus Obstalden, Zopfis Wohnort: für den passionierten Kletterer bestehen sie primär aus Felswänden. Trotzdem, das Buch ist kein Kletterführer, obschon die Kletterei einen gewichtigen Raum einnimmt, da etliche Bergabenteuer erzählt werden. Ein weiteres Kletterkapitel widmet sich den Bergsteiger-Ehepaaren Brigitte und Paul Etter sowie Gaby und Geny Steiger aus Walenstadt.
Aber nicht nur für Bergflöhe bietet es viel Wissenswertes. Der historische Teil beschäftigt sich mit der Anzahl sieben und dem Namen der Bergkette. Dann wird das Wildenmannlisloch, die hochalpine Wohnhöhle von Steinzeitjägern, beschrieben. Unter den gefundenen Tierknochenreste sind sicher jene des vorgeschichtlichen Höhlenlöwen die Aufsehen erregendsten.
Das Kapitel von Rea Brändle über den Seluner, dem Mann, der im 19. Jahrhundert im Wildenmannlisloch hauste, beginnt so: „Man stelle sich vor: plötzlich ist einer da. Niemand weiss, wie er heisst und woher er gekommen ist. Er scheint kein Vorleben zu haben, keinen Namen, keine Identität, kann weder sprechen noch sonst wie sich verständlich machen und versteht keine Fragen, die man ihm stellt. Das erhitzt die Gemüter, verleitet zu Spekulationen.“
Artikel über Tiere und Pflanzen, über Sagen und Geschichten schliessen an und zeigen ein lebendiges Bild dieser Region, die wir vielleicht eher mit Wintersport verbinden.
Dem Künstler und Briefmarkenstecher Karl Bickel und seinem Paxmal hoch über Walenstadt gilt ein weiteres Kapitel. Aus Dankbarkeit über die Heilung seiner Tuberkulose-Erkrankung hat er in 25 jähriger Arbeit diesen Friedenstempel mit riesigen Mosaiken geschaffen.
Peter Weber, der bekannte Schriftsteller aus dem Toggenburg, beschreibt eine Skiwanderung auf die Brisi. Seine phantasievolle Sprache lässt die Anstrengung des Aufstiegs, die Hochstimmung um das Geleistete, die Natur-Beobachtungen auf dem Gipfel und die stimmungsvolle Abfahrt im Sulzschnee miterleben.
Der Geologie und der Erforschung des „sechsten“ Kontinents, der Höhlensysteme und der Donnerlöcher, sind weitere Kapitel gewidmet. Karst und Kalk prägen die Bergkette, in der man oft Fossilien aus dem Ur-Mittelmeer entdecken kann.
Dann folgen Schilderungen über das Leben auf der Alp und am Fusse der Churfirsten. Das autofreie Dörfchen Quinten am Walensee, Brauchtum aus dem Toggenburg, der Klangweg zwischen Schwendisee und Selamatt sind weitere reizvolle Stationen in dieser Monografie. Sie bietet deshalb jungen und älteren Lesern, Familien oder Alleingängern viel Wissenswertes und Anregungen für einen Besuch beim Nachbarn des Alpsteins.
Lucette Winzeler, Dorfbibliothek Stein
Madieri, Marisa. Wassergrün : eine Kindheit in Istrien. - Wien : Paul Zsolnay Verlag, 2004.
(ISBN 3-552-05316-6)
"25. November 1981. Die Tiefe der Zeit ist eine meiner jüngsten Errungenschaften. Morgens, wenn ich allein in der stillen Wohnung zurückbleibe, finde ich wieder zum Glück des Denkens, zum Schweifen in die Vergangenheit und zum Lauschen auf das Fliessen der Gegenwart." Mit diesen Sätzen beginnt die Autorin nach einer kurzen Rückblende auf ihre ersten Lebensjahre die Aufzeichnungen über ihre Kindheit, immer wieder unterbrochen von Eintragungen aus der Gegenwart.
Heimat
Marisa Madieri führt uns an ihren Geburtsort Fiume, einer erst italienischen, dann jugoslavischen Stadt. Dort lebte sie zusammen mit ihren Eltern und einer Schwester, inmitten eines politischen Konfliktes, der vom übrigen Europa kaum wahrgenommen wurde.
Flucht
Zwischen 1947 und 1948 wurden alle in Fiume verbliebenen Italiener aufgefordert, entweder das Land zu verlassen oder die jugoslawische Staatsbürgerschaft anzunehmen, da die Stadt unterdessen von Jugoslawien besetzt war. Die Familie Madieri entschied sich für Italien und war deshalb bis zur Abreise vielen Ausgrenzungen und Demütigungen ausgesetzt, so wurden sie unter anderem aus ihrer Wohnung ausgewiesen und mussten ein Jahr lang in einem Zimmer hausen, der Vater war im Gefängnis. Die Mutter, ihre beiden Töchter und die kranke Grossmutter Madieri traten allein die Reise nach Triest in eine ungewisse Zukunft an. Als anerkannte Flüchtlinge bezogen sie ein Quartier in Silos, einer Siedlung für Einwanderer.
Ein Auszug aus einer Beschreibung der Autorin über das neue „Zuhause“ in Triest: "Das Erdgeschoss, der erste und der zweite Stock waren fast völlig dunkel, nur der dritte war von grossen Oberlichtern erhellt, die man jedoch nicht öffnen konnte. In jedem Stock war der Raum durch Holzwände in viele kleine Abteilungen gegliedert, die „Boxen“ genannt wurden. Das Betreten des Silos war wie ein Eintritt in eine Art dantesker Landschaft, in ein nächtliches, verräuchertes Purgatorium. Aus den Boxen stiegen Küchendünste und jede Menge anderer Düfte auf, die sich zu einem einzigen, intensiven, typischen und nicht zu beschreibenden Geruch vereinten." Viel Fantasie und Durchhaltevermögen war gefragt, um einigermassen über die Runden zu kommen.
Erinnerungen
Marisa erinnert sich an ein wassergrünes Kleidchen, das ihre Mutter für ein Schulfest genäht hat, damit ihr Töchterchen nicht abseits stehen musste, obwohl für den Kauf des Stoffes ein Pelz und ein Schmuckstück zum Pfandleiher gebracht werden mussten.
Die Autorin besucht als erwachsene Frau immer wieder die Orte ihrer Kindheit, findet viel Vertrautes, einiges kommt ihr armseliger und kleiner vor, wie das oft empfunden wird, wenn man seiner Vergangenheit begegnet.
Das Buch ist aber nicht nur eine Erinnerungen an die Jugend, es enthält auch viele, sehr einfühlsame geschriebene Gedanken zum Älterwerden, so z. B diese Beschreibung, wie Marisa die frühe Alzheimerkrankheit ihrer Mutter erlebte: "Meine Mutter merkte, dass sie dabei war, sich selbst abhanden zu kommen, versuchte verzweifelt, dagegen anzukämpfen, indem sie Bezeichnungen von Gegenständen, -Uhr-Kissen-Stuhl-, auf Zettel schrieb und sie in der Wohnung verstreute. Nutzlose Rettungsringe, ausgeworfen in den Sumpf des Vergessens, der sie verschlang."
Ein sehr lesenswertes Buch über eine von Kriegswirren geprägte Kindheit, ein Erwachsenenleben mit vielfältigen Erinnerungen und schlussendlich eine Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit. Marisa Madieri ist 1996 in Triest gestorben.
Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel
Weeks, Sarah. SoB.It : Heidis Geschichte ; Jugendroman ab 12 Jahren und Erwachsene. - München : Hanser Verlag, 2005.
(ISBN 3-446-20643-4)
„Meine Mutter liebte mich auf ihre spezielle Art, konnte sich aber nicht allein um mich kümmern, weil sie krank im Kopf ist. Bernie erklärte mir das mal, indem sie Mama mit einer kaputten Maschine verglich. Alle wichtigen Teile sind vorhanden und von aussen sieht sie aus als würde sie prima funktionieren. Im Innern sind viele Rädchen schadhaft und schief oder gar nicht vorhanden, und ohne die läuft ihre Maschine nicht so richtig rund“...
Heidis Leben beginnt an dem Tag als ihre geistigbehinderte Mutter an der Tür von Bernadette klingelt. Aus dem Nichts sind Mutter und Tochter am 19. Februar vor 12 Jahren in Reno/ Nevada aufgetaucht und ziehen in die Wohnung neben Bernadette, genannt Bernie oder Dette. Nur gut, dass es eine Verbindungstür zwischen den beiden Wohnungen gibt, denn Bernie leidet unter Agoraphobie und kann deshalb das Haus nicht verlassen. So leben Heidi, ihre Mutter und Bernie in einer Schicksalsgemeinschaft und alles ist richtig und gut so in dieser kleinen Welt. Als Heidi fünf wird, ein Alter in dem die meisten Kinder in den Kindergarten gehen, bleibt sie zu Hause. Bernie ist diejenige, die Heidi alles beibringt und sie unterrichtet. Ihre Mutter, die sich selber “SoB. It“ nennt, ist dazu nicht in der Lage. Sie kennt gerade mal 23 Wörter, Heidi, SoB. It, gut, nein, blau, raus, heiss, schlimm, fertig, psst, m-hm, bis bald, hallo, Dette, Tee, geh, au, mehr, wieder, schön, nun, Kuss und Soof. Heidis Mutter kann auch alleine Tee machen.
Aber Heidi wird älter und will wissen, woher sie kommt, will herausfinden, wer ihr Vater ist. „Wenn ich die Wahl hätte, wüsste ich lieber Bescheid, als im Dunkeln zu tappen, das will ich ehrlich zugeben“...
So viele wichtige Fragen beschäftigen sie und es ist niemand da, der sie beantworten kann. Eines Tages findet Heidi ein altes Foto ihrer Mutter. Ein junger Mann lächelt neben ihr in die Kamera. Ist das Heidis Vater? Hat das geheimnisvolle Wort „Soof“, das Heidis Mutter immer wieder selig lächelnd, den Blick in unbekannte Ferne gerichtet vor sich hinmurmelt, eine mit dem Bild zusammenhängende Bedeutung? Heidi will und muss das Rätsel ihrer Herkunft lösen und niemand wird sie daran hindern, auch wenn sie dazu ganz allein bis ans Ende der Welt reisen muss.
Beeindruckend gelingt der Autorin die Beschreibung der Protagonistinnen, die abgesondert und isoliert versucht haben, eine kleine, nicht so schrecklich komplizierte Welt ganz allein für sich zu bewahren. Umso stärker erscheint Heidis Mut, sich aus Enge und Geborgenheit zu lösen und zu emanzipieren und sich ganz allein mit dem Bus quer durch Amerika durchzuschlagen, um sich dieser komplexen Welt zu stellen. SoB.It hat kein Happyend.
Sarah Weeks ist ein eindringlicher, atmosphärisch dichter und ergreifender Roman geglückt. Es ist nicht nur der äussere Handlungsrahmen, der einen beim Lesen nicht mehr loslässt. Es sind vor allem die inneren Welten, die Veränderungen der Figuren und die Chance, sich lesend an ihrem Leben ohne dabei sentimental zu werden zu beteiligen. SoB.It steht auf der Nominationsliste für den Jugendbuchpreis 2006.
Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
De Villiers, Karlien. Meine Mutter war eine schöne Frau. - Zürich : Arrache Coeur, 2006.
(ISBN 3-907055-99-3)
Was in den USA, in Japan und in Frankreich schon vor Jahren seinen Anfang nahm, boomt jetzt auch im deutschsprachigen Raum: der autobiografische Comic.
In den Siebzigerjahren gibt Harvey Pekar erstmals sein Magazin American Splendor heraus, das ausschliesslich persönliche Geschichten enthält. Der Japaner Keiji Nakazawa veröffentlicht den autobiografischen Comic-Roman Barfuss durch Hiroshima, in dem er den Atombombenabwurf und seine Folgen beschreibt. Weitere Meilensteine dieses Genres folgen: Maus von Art Spiegelman, Die heilige Krankheit von David B., Die Sputnikjahre von Baru, Persepolis von Marjane Satrapi, Blankets von Craig Thompson.
Diese Werke finden nun endlich auch in unserem Sprachraum ein breiteres Interesse und werden nach und nach ins Deutsche übersetzt. Kaum eine grosse Zeitung, kaum eine Kultursendung im Fernsehen, die sich dieses neuen Genres nicht angenommen hätte.
Zielpublikum des autobiografischen Comics sind nicht mehr Kinder und Jugendliche, sondern Erwachsene, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufgewachsen sind. Die Autorinnen und Autoren verbinden Kindheitsthemen mit gesellschaftlichen und politischen Begebenheiten jener Zeit.
Nach dieser Formel funktioniert auch Karlien de Villiers Meine Mutter war eine schöne Frau. Ein erster Erzählstrang schildert den Zerfall ihrer Familie. In der Rahmenhandlung kehrt die Ich-Erzählerin nach einem längeren Auslandaufenthalt in ihre Heimat Südafrika zurück. Der Empfang durch ihren Vater ist kühl. Ihre Schwester findet sie erst nach längerer Suche. Sie ist harten Drogen verfallen und will nichts von Karla wissen. Die offensichtliche Entfremdung von ihrem Vater und von ihrer Schwester bewegen die Rückkehrerin dazu, in ihre Kindheit zurückzublicken. Die ersten Jahre ihrer Kindheit hat sie als glückliche Zeit in Erinnerung. Der Vater ist Ingenieur und entwirft Panzerfahrzeuge für das Apartheid-Regime. Die Mutter, ein ehemaliges Covergirl, erzieht die beiden Töchter Natalie und Karla und führt den Haushalt. Die Familie bewohnt zusammen mit Hund und Katze ein Häuschen in einem weissen Vorort von Kapstadt. Die perfekte Familienidylle. Doch der Schein trügt. Die Kinder werden immer öfter Zeugen von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Es kommt zur Scheidung. Die Kinder bleiben bei ihrer Mutter. Andauernde finanzielle Probleme erschweren das Zusammenleben. Die Mutter erkrankt an Lungenkrebs und stirbt daran. Der Vater nimmt die beiden Mädchen aber nicht zu sich zurück. Er schickt sie in ein Internat, weil seine neue Lebenspartnerin, ein Hochschuldozentin, keine Kinder im Haus duldet.
Diese familiären Probleme schildert de Villiers vor dem Hintergrund des sozialen und politischen Wandels, der das Land in Atem hält. Karla bekommt eine erste Ahnung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, als die schwarze Hausangestellte von ihrer Mutter auf die Strasse gestellt wird. Die Rassentrennung fällt ihr auch am Strand auf, wo ein Schwarzer zwar kalte Getränke verkaufen, aber selber nicht baden darf. Dass das Apartheid-Regime nicht vor brutaler Gewalt zurückschreckt, um ihre unmenschliche Rassengesetze durchzusetzen, zeigen ihr Bilder von Rassenunruhen, die Tote und Verletzte in grosser Anzahl fordern. Die Instabilität des Landes und die Verarmung der schwarzen Bevölkerung führen zu einer erhöhten Kriminalität. Die uneinsichtigen Weissen, zu denen auch Karlas Vater zählt, bunkern sich ein.
Und dieser Vater ist nach wie vor uneinsichtig, nicht bereit, seine Ansichten und Gewohnheiten zu überprüfen, sich den gesellschaftlichen Veränderungen zu stellen, sich aus seiner Abkapselung zu befreien. Deshalb verlässt Karla sein Haus - ohne ein Wort des Abschiedes.
Die inhaltlich komplexe Erzählung setzt de Villiers in einem einfachen, fast kindlichen Zeichenstil um. Die Figuren sind stark abstrahiert und haben klare Konturen. Die grellen Farben sind flächig eingesetzt und erinnern an die Bilder afrikanischer Kinderbuchillustratoren.
Karlien de Villiers wurde 1975 in Kapstadt geboren. Sie absolvierte ein Studium in Graphic Design an der Universität Stellenbosch. Heute lebt sie in Pretoria.
Kurt Sallmann, Appenzeller Bibliobahn
Senn, Jakob. Hans Grünauer : ein Roman ; mit einem Nachwort von Matthias Peter. - Zürich : Limmat Verlag, 2006.
(ISBN 3-85791-507-2)
Hans Grünauer wird Schriftsteller
Mit schöner Regelmässigkeit haben in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bald die Verleger, bald die Radiomacher, bald die Volkstheater-Regisseure sich angestrengt, das literarische Erbe der beiden Zürcher Oberländer Schriftsteller Jakob Stutz und Jakob Senn im Gedächtnis der Zeitge-nossen zu halten. Die Anstrengung dauert in unser Jahrhundert hinein fort: vor fünf Jahren sind Stutz' "Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben" – nach dem Winterthurer Verleger Vogel – von Huber in Frauenfeld neu aufgelegt worden; und soeben ist Senns "Hans Grünauer" – vormals bei Rohr in Zürich – vom Limmat Verlag wiederediert worden, nachgewortet vom St. Galler Publizisten (und Leiter der Kellerbühne) Matthias Peter.
Der Lesegewinn aus den beiden Lebensstoff verarbeitenden Büchern ist vergleichbar. Wir nehmen teil an weitschweifigen Schilderungen eines Lebensganges, am Gedankengut und Wertesystem vor und um die Mitte des 19. Jahrhunderts, an Bedingungen der Selbstdarstellung vor rund 150 Jahren. In der deutschsprachigen Schweiz dürften dafür Jeremias Gotthelfs "Bauernspiegel" (1836) und Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich" (erste Fassung 1853-1855, zweite Fassung 1879/80) musterbildend ge-wirkt haben. Jedenfalls ist in allen genannten Romanwerken die Sozialgeschichte einer Kindheit, eines Aufwachsens, einer Persönlichkeitsentfaltung zentral. Während aber Gotthelfs Erstling harsche Kritik an den Zeitum- bzw. –missständen übt und während Kellers Bildungsroman vom Autobiographischen mehr und mehr ins Allgemeingültige gleitet, bleibt Stutz' "Selberlebensbeschreibung" und bleibt Senns Romantisierung eines Werdeganges auf dem literarischen Niveau von Lebensbildern: volkskundlich interessant und privatgeschichtlich anrührend.
Unterwegs ins Land und Leben
Nicht zuletzt die Reiseberichte wirken bis auf den heutigen Tag einnehmend. Nach Winterthur, Wil (St. Gallen), nach Elgg und Einsiedeln führt uns Jakob Stutz; nach Fischingen, Bauma, Wängi und Uster, nach Rapperswil und Zürich geleitet uns Jakob Senn. Insofern sind sie auch Heimatbücher, allerdings mit beschränktem Rayon; Ulrich Bräker – ein Jahrhundert früher – reist, wandert und wallt entschieden weiter herum. Und beobachtet schärfer.
Jakob Senns Jahre 1864 bis 1868 in St. Gallen, wo er, als Wirt, lebt und schriftstellert, und seine Jahre 1868 bis 1878 in Südamerika (Uruguay) schlagen sich in der Lebensgeschichte nicht nieder. 1863 ist das Manuskript vollendet, der Verfasser unterstellt es nebst rührendem Brief Gottfried Kellers Urteil, das Skriptum bleibt bis 1888 ungedruckt. Inzwischen ist Senn in den wirt- und gesellschaftlichen Ver-hältnissen seiner Zeit – laut Urs Boeschenstein – "vor die Hunde" gegangen: umgetrieben, entmutigt, verunsichert, müde. Aus dem Weberkind der Tösstaler Landschaft ist kein Musenliebling mit landes-weitem Renommee geworden. Senn sucht 1879 in der Limmat seinen Tod.
Unsere Achtung kommt zu spät
Ob und allenfalls wie Keller das Skriptum beurteilt hat, darüber wissen wir nichts. Vielleicht hätte er, Erster Zürcher Staatsschreiber, Senn auf ein Postament helfen können. In der Wahl des Buchum-schlags für die Neuauflage steckt darum ein süssbitterer Zug: der grün kartonierte Band ist einge-schlagen in Kellers Aquarell von 1842/43, betitelt "Landschaft mit Gewitterstimmung". Für unser Ge-denken an den Volksschriftsteller Jakob Senn ist durch die Neuauflage des "Hans Grünauer" (vor-mals: "Ein Kind des Volkes") das Nötige getan; man möchte wünschen, es seien auch die Enttäu-schungen des literarisch streberischen Autodidakten aus Fischenthal wettgemacht, indem hierzulande sein Hauptstück in den Dorf- und Gemeindebibliotheken ab sofort zur Ausleihe stehe.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute
Klein, Stefan. Zeit – der Stoff aus dem das Leben ist : eine Gebrauchsanweisung. - Frankfurt a.M. : S. Fischer Verlag, 2006.
(ISBN 3-10-039610-3)
Weshalb vergehen ausgerechnet die unangenehmen Situationen so langsam, Glücksmomente dagegen so rasch? In beiden Fällen sind genau 60 Minuten verstrichen…
Zeit fehlt!
Diese Erfahrung ist uns hinlänglich bekannt. Das ist merkwürdig, denn gemessen in Stunden und Jahren sind wir reicher als Menschen es jemals waren. Zeitnot macht kurzsichtig für die Zukunft; man rennt den Ereignissen hinterher, anstatt sie zu gestalten.
Das Empfinden der Hetze vieler Menschen entsteht im Bewusststein, und dieses orientiert sich an der inneren Zeit. Es gilt also, die Gesetze der inneren Uhr zu verstehen, um besser mit ihr umgehen zu können. Der Autor erklärt, warum es Eulen und Lerchen gibt. Die Eulen sind am Abend munter und können am Morgen liegen bleiben. In diese Gruppe fallen die meisten Pubertierenden. Bei den Lerchen ist es umgekehrt. Besonders auffallend sind die Unterschiede zwischen innerer und äusserer Zeit, betrachtet man den persönlichen Tagesrhythmus: Manche Menschen müssen sich jeden Morgen neu damit quälen, aus dem Bett und einigermassen in Fahrt zu kommen; andere sprühen zur selben Stunde vor Energie. Uhrzeit, Sonnenlicht, auch die Kaffeerationen sind für alle gleich. Also muss der Gegensatz in uns selbst liegen. Und warum haben einige Zeitgenossen die Ruhe weg und bewältigen gutgelaunt Termin um Termin, während andere schon über ein oder zwei Verpflichtungen am Tag stöhnen? Berühmt ist das
„Rentner-Syndrom“
Weshalb verrinnt das Leben immer schneller, je älter man wird? Die Klagen über Zeitmangel im Ruhestand lassen sich ganz offensichtlich nur durch das innere, subjektive Zeitempfinden erklären.
Ich weiss nicht mehr, wo mir der Kopf steht…
Zeit kostet nicht nur die Tätigkeit, sondern auch all die Dinge, die wir noch unerledigt mit uns herumtragen. Die Leistungsfähigkeit geht nämlich schon dann dramatisch zurück, wenn man nur zwei einfache Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen versucht. In Zeitmanagement-Kursen wird das sog. Multitasking empfohlen; verschiedene Sachen gleichzeitig erledigen. Jeder kennt die meist jüngeren Zeitgenossen, die in ihr Handy eine SMS tippen, während sie mit dem Kollegen sprechen, am PC sitzen und nachsehen, ob vielleicht eine E-Mail eingegangen sein könnte. Im Hintergrund läuft der Fernseher, zumindest aber Musik. Die Forschung hat herausgefunden, dass wir nur einen einzigen Vorgang bewusst steuern können. Geteilte Aufmerksamkeit für zwei bewusste Tätigkeiten kann es nicht geben.
Ohnehin ist die äussere Zeit nur ein winziger Ausschnitt aus dem, was wir als Zeit unseres Lebens erfahren. Der Sekundenzeiger kennt einzig die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft erfasst er nicht. Menschen leben auch noch in ihrer Erinnerung – sie ist gewissermassen im Gedächtnis geronnene Zeit.
Dieses Buch handelt von den verborgenen Dimensionen der Zeit. Sein Thema sind all die Phänomene, die sich nicht ohne weiteres in Minuten und Stunden messen lassen. Im Mittelpunkt dabei steht die Frage, wie das Erleben der Zeit zustande kommt, und wie wir lernen können, achtsamer mit ihr umzugehen….zum Beispiel Zeitinseln schaffen im Einklang mit der Körperuhr. Unsere innere Uhr gilt es wahrzunehmen und zu respektieren. Denn sie ist der Stoff, aus dem das Leben ist!
Stefan Klein wurde 1965 geboren, Studium der Physik und Philosophie. Sein Bestseller „Die Glücksformel“ wurde in 24 Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen
Ben Jelloun, Tahar. Der letzte Freund. - Berlin : Berlin Verlag, 2004.
(ISBN: 978-3-8270-0556-4)
Eine Freundschaft in Marokko − Was bringt diese Freundschaft in die Krise?
Tanger, die Jahre 1958 bis 2004, Dreh- und Angelpunkt ist die Freundschaft von Ali und Mamed.
Was als Schulfreundschaft beginnt, überdauert die Studienzeit, erste sexuelle Erfahrungen, politische Wirrnisse, den Aufenthalt in einem militärischen Erziehungslager, die Heirat, Ehe und Affären, Berufs-, Familienleben und auch Mameds Auswanderung nach Schweden. Ihre Verbundenheit hält diesen gemeinsam und getrennt erlebten Zeiten stand. Sie zerbricht auch nicht an Differenzen oder der Eifersucht ihrer Ehefrauen. Diese Widerstände stärken die Kraft der Freundschaft eher. Aber hält sie stand, wenn Mamed Ali aus seinem Leben ausschliessen will? Steckt Ali diese Verletzung aufgrund einer Erklärung seines Freundes weg?
Krise der Freundschaft
Knapp, aber vertraulich, kritisch und hemmungslos berichtet Ali über Mamed und Mamed über Ali, über ihre Beziehung, Erlebnisse und sich selber − jeder seine Version der Geschichte. Dass sie eine Menge banaler und klischeehafter Sexszenen beschreiben, sei nicht verschwiegen. Die zwei Perspektiven überraschen und führen vor Augen, dass die Gefühle und die Wahrnehmung zweier Menschen ein und desselben Geschehens nie gleich sind.
Ein Bekannter erzählt ihre Geschichte weiter, weil der Punkt in ihrer Freundschaft kommt, wo weder Ali noch Mamed darüber berichten können.
Diese drei Berichte werden umschlossen von einem Brief, von dessen Existenz auf der ersten Seite geschrieben steht und dessen Inhalt am Ende aufgedeckt wird. Ist er Zeugnis vom Stillstand oder vom Neuanfang der Freundschaft?
Ein Moslem in Europa
Im Roman klingen noch weitere Themen an: die Geschichte Marokkos, die politische Gefangenschaft, der Islam, die Auswanderung, die Familie und die Gesellschaft, Damit zeigt die Erzählung auch wie widersprüchlich diese maghrebinische Welt ist: sowohl archaisch, als auch modern. Es kommt einem Kunststück gleich, da sein Leben zu meistern.
In Unkenntnis setzen heute manche den Islam fälschlicherweise mit Terror und Fundamentalismus gleich. Tahar Ben Jelloun (geb. 1944) ist ein Moslem aus Marokko, der heute in Paris lebt. Wer könnte uns besser in diese vielseitige, komplexe Welt einführen? Er macht es auf eine einfache und verständliche Art und Weise. In "Der letzte Freund" ist der Islam Teil des Romans, in andern Büchern das Hauptthema (siehe Literaturhinweis). Ben Jelloun versucht mit Aufklärung und Beseitigung von Vorurteilen die Kluft zwischen Europa und den arabischen, islamischen Ländern zu überwinden.
Für einiges im Roman greift Ben Jelloun auf eigene Erfahrungen zurück: Freundschaft, Enttäuschung, Gefangenschaft, Emigration. Er erzählt, um davon frei zu werden. Er bleibt der Realität treu, schreibt ohne Romantik und offensichtlichen Tiefgang. Es macht den Leser betroffen. Wie steht es um die Freundschaft in meinem Leben?
Regula Trachsler, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
Talarigo, Jeff. Die Perlentaucherin. - Neuwied : Verlag Luchterhand, 2005.
(ISBN 978-3-630-87219-3)
Lebenstraum
Seit Jahrhunderten tauchen Frauen in der Seto-Inlandsee nach Perlen. Das Perlentauchen ist der Lebenstraum der jungen Japanerin, denn sie fühlt sich im Meer frei, stark und unabhängig. Sie taucht immer noch wie ihre Vorfahren vor fünfzehn Jahrhunderten ohne Flossen. Es ist eine harte mühselige Arbeit für die jungen Frauen. Der Sprung ins Wasser, durch Licht tauchen, das die Farbe eines herbstlichen Halbmondes hat, bis auf zwanzig Meter, dann nach Vertrautem tasten wie Austern, Seeigel, Jakobsmucheln, Seegras, Abalonen. Das Eintauchen ist wie der Übergang von Herbst zum Winter, vom Winter zum Herbst beim Aufstieg, doch das Warmwerden braucht viel Zeit. Beim letzten Tauchgang stiess sie sich am Vulkangestein, das scharf wie Rasierklingen ist, doch sie fühlte nichts. Sie wartete auf den Schmerz, der der Hässlichkeit der Wunde entsprochen hätte, aber er kam nicht.
Sie hatte von einer Krankheit gehört, bei der Flecken und verletzte Stellen schmerzunempfindlich werden. Von Personen, die diese Symptome haben, soll man sich fernhalten. Lepra.
Leprainsel
Sie wurde mit 19 Jahren im Jahr 1948 auf die Insel Nagashima gebracht, zusammen mit 2000 anderen Patienten. Dort wurden sie über 50 Jahre von der Gesellschaft ferngehalten. Ihr wird unmissverständlich klar gemacht, dass ihr Leben hier und jetzt neu beginnt. Sie wird zur Nummer 2645. Sie hat einen Tag Zeit, sich einen neuen Namen zu überlegen. Ihr Name wird aus dem Familienregister gelöscht, weil sie grosse Schande über ihre Familie gebracht hat. Von jetzt an bis zum Ende ihres Lebens wird sie Fräulein Fuji heissen, nach dem Berg, den sie einst mit ihrem Onkel bestieg.
Obwohl schon bald ein Heilmittel gegen Lepra gefunden wird und ihre Krankheit nicht weiter voranschreitet, darf sie die Insel nicht verlassen. Alle Patienten, die dank des Medikaments Promin praktisch keine physischen Anzeichen der Krankheit haben, müssen isoliert bleiben. Die Angst ist gross, dass die Krankheit über die Gene weitervererbt werden könnte, die Leute sich nicht mehr in die Gesellschaft einfügen können, zumal sie schon von der eigenen Familie verstossen wurden.
Fräulein Fuji findet ihren Platz in der durch grausamen Zufall zusammengewürfelten Gesellschaft – darunter eine koreanische Geschichtenerzählerin, ein Schriftsteller, ein Gärtner, ein Urnenmaler, ein Dichter – und schöpft innere Ruhe und Kraft aus der Zwiesprache mit dem Meer.
Beeindruckend
Eine erschütternde Geschichte, basierend auf historischen Tatsachen, von Krankheit und Ausgestossensein, von Unterdrückung und Sehnsucht nach Freiheit, von Menschenwürde und Mut. Ein ungewöhnliches Buch, nachhaltig, ebenso poetisch wie grausam, ebenso anrührend wie abstossend. Es ist eine beeindruckende Leistung, als junger Mensch vor einer Krankheit zu stehen, die alle Wünsche und Hoffnungen zerstört – und trotzdem nicht daran zu zerbrechen. Beeindruckend, in all dem Elend genug Gründe zu finden, um weiterzuleben. Ein Buch, das unter die Haut geht.
Jeff Talarigo wurde in Pennsylvania geboren und arbeitete nach seinem Studium als Journalist. 1993 zog er nach Japan. Er lebt mit seiner Frau und seinem 10jährigen Sohn in Kokura, gibt Englischunterricht und schreibt an seinem zweiten Roman.
Ruth Zarro, Bibliothek Teufen
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