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Liebe mich : 17 Liebesgeschichten aus der Schweiz. - Chiasso: Edizioni Abendstern, 2012.
(ISBN 978-88-907709-4-4)
Ist die Liebe sich selbst genug?
Nein, man muss sie auch erzählen. Eine muss erzählen dürfen, was Liebe in ihrem Leben so alles anrichtet, und einer muss das lesen wollen. Beste Zeitgenossen vermögen beides: sie geben und sie nehmen Liebe – und sie dichten davon oder erzählen sie. Pedro Lenz und Charles Lewinsky, Eveline Hasler und Theres Roth-Hunkeler – neben einem weiteren guten Dutzend Schweizer Schriftsteller – erzählen vom Liebesgeschehen. Siebzehnmal. Peter Rüedi hat den Band vorgewortet. Und hat Grund, darauf hinzuzeigen, dass in dieser Sammlung eben gerade kein Rösti- und kein Polentagraben gezogen seien.
Vom Geschehen zur Geschichte
Wollte jemand, der ausgiebig liest, allen Ernstes behaupten, an Liebesgeschichten herrsche Mangel? Kaum zu glauben. Mangel an Liebeslyrik? Ausgeschlossen. Kann man nicht stets neu den anrührenden Erzählungen begegnen etwa von Johann Peter Hebel, von Böll oder Siegfried Lenz, von Ramuz oder dem Walliser Maurice Chappaz, von Hohler oder dem Welttheaterautor Tim Krohn, von Wolf Wondratschek oder, keine zehn Jahre her, von Ulrike Draesner („Hot Dogs“, München 2004)? Auch im Multipack, also zu siebt oder zu sechst, sind Liebesgeschichten angeboten: klassische von vor dreissig Jahren bei Reclam (Behrens, Herburger, Kaschnitz unter ihnen); rezente und wenn der Erzählbericht unbedingt Mann plus Mann zusammenbringen musste, von Martin Frank (Zürich 1999). Sammlungen mit Liebeslyrik durften unterm Bekenntnistitel „Bin dein liebestropfes Tier“ erscheinen oder überschrieben sein mit dem Geständnis „Aber besoffen bin ich von dir“. Unlängst sind Erich Renners „Liebesleute“ ausgeliefert worden (Wuppertal: Hammer), dieses Jahr haben Polt-Heinzl/Schmidjell „Liebesgedichte aus aller Welt“ herausgegeben (Stuttgart: Reclam). Und zwischen all dem sind – in einem vielsagend randständigen Verlag – die „17 Liebesgeschichten aus der Schweiz“ ans Licht gekommen: bei den Edizioni Abendstern in Chiasso.
Küsse / Tränen / Flüche / Trauer
Im Vorwort schreibt Rüedi gegen die Auffassung an, Liebesgeschichten seien Geschichten über die Liebe. Tatsächlich, wer nachsinnt, wer an Einschlägiges sich erinnert, dem fällt ein, wie viele Male auf Kuss und Umarmung Tränen folgen, Flüche lautwerden, Enttäuschung überwunden und Trauer verarbeitet wird in Texten, die programmatisch davon berichten, „was die Liebe anrichtet“ (Rüedi). Da wir im hier anzuzeigenden Band manche neue, aber Maurice Chappaz’ überhaupt „schönste Liebesgeschichte“ nicht wiederfinden – dafür Erzählungen von Thomas Hürlimann, von Merz, Stamm, M. R. Dean –, mag Chappaz’ zwei Seiten kurze Erzählung als Paradigma dienen. Für Kuss und Glück, für Verlust und Depression. In einem Dorf eine junge Frau. Rubens-Formen. Zwei Brüder umwerben sie, der ältere bekommt – ich sollte sagen: heiratet sie. Zweiter Weltkrieg, das Wallis gehört zur verschonten Insel, aber wer beim Schmuggeln ennet der schweizerisch-italienischen Grenze erwischt wird, verschwindet. Im Dorf muss man den Gatten unserer Schönen für gefallen halten – jetzt ist der jüngere Bruder am Zug. Weniger laute Heirat. Irgend leiseres Glück. Dann kehrt der Ältere aus Russland heim. Einer der beiden Männer, folgern wir, sei jetzt zu viel. Aber nichts wird pikant – an einem Kummerschlag stirbt der Heimkehrer, und aus einer verzweifelten Mischung aus Scham, Schuldempfindung, Eifersucht hängt sich der Jüngere auf. Der Sarg mit dem Älteren wird in der Kirche abgedankt, der andere Sarg mit dem „Selbstmörder“ muss vor der Kirchtür warten. Begraben, immerhin, werden die Brüder nebeneinander. Die Witwe geht ins Kloster. Kostbar an der Sammlung, für welche hier geworben wird, ist – trotz der Grenzziehung Schweiz und der Beschränkung auf 17 Texte – der mehrseits offene Horizont: welsche Erzähler, ein Tessiner und ein Unterengadiner Autor kommen zu Wort. Andreas Münzner hat Jacques-Étienne Bovard, Sylviane Chatelain und Daniel de Roulet übertragen, Alex Capus hat Anne Cuneo übersetzt. Giovanni Orellis Geschichte ist, wie mancher Geschwistertext, erstmals veröffentlicht. Der titelstiftende Appell lautet: „Liebe mich“.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute
Sister – l’enfant d’en haut / Regie: Ursula Meier ; Produktion Frankreich/Schweiz 2012. - Zürich : filmcoopi.
Sister – ein etwas anderer Blick in die Berge
„Sister“ ist ein metaphernreicher, poetischer Schweizer Film der Regisseurin Ursula Meier, der an den Filmfestspielen von Berlin 2012 den Silbernen Bären gewann. Die Westschweizerin Ursula Meier ist eine begnadete Filmemacherin, die sich an ungewohnte Themen wagt und diese in eigenwilliger Weise an den Zuschauer bringt.
Die Idee zum Film basiert auf einer Erinnerung aus der Kindheit der Regisseurin. Sie ist in der Nähe eines Skigebiets aufgewachsen und wurde damals gewarnt vor einem Jungen, der Touristen beklaute, der wie ein Verrückter über die Pisten fuhr und gar nicht wirklich gut skifahren konnte. Er hatte Hausverbot in den Restaurants. Das Bild dieses kleinen Diebes hat sie nicht mehr losgelassen.
Und so erzählt Ursula Meier die berührende Geschichte von einem Knaben namens Simon, der mit seiner Schwester unten im Tal in einem tristen Wohnblock lebt und so oft als möglich mit der Seilbahn hinauf in einen noblen Winterkurort fährt. Dort klaut er Skier, Brillen, Helme und Handschuhe von betuchten Touristen. Weder er noch die Kamera haben einen Blick für die Schönheit des Winterpanoramas. Simon geht es allein darum, diejenigen Marken zu finden, für die er später im Tal das meiste Geld bekommen wird.
So dreist und verwerflich Simons Beutezüge sind, so herzzerreissend ist zu spüren, dass hinter seinem kriminellen Tun einzig und allein das grosse Bedürfnis nach Nähe steht, nach Anerkennung oder sogar etwas Liebe von seiner älteren, arbeitslosen Schwester (oder ist es die Mutter?), die zwielichtigen Typen folgt. Er sorgt verzweifelt für sie, um sie ja nicht zu verlieren. Die beiden leben am Rande der Gesellschaft, sich vollständig selbst überlassen. Weggelassen werden Behörden, Polizei, Sozialarbeiter und Schule – ein Märchen?
Dass uns die Geschichte von Simon und Louise so nahe geht, liegt nicht nur an den beiden wunderbaren Schauspielern, dem 13-jährigen Kacey Mottet Klein und Léa Seydoux. Es ist auch die Feinfühligkeit der Inszenierung, es sind die kleinen Gesten, die Stille, all die Momente, in denen unser Herz vor lauter Anspannung stehen zu bleiben scheint.
Ursi Lendenmann, BiblioGais
Feric, Zoran. Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr : Roman ; aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof. - Wien : Folio Verlag, 2012. (TransferBibliothek.)
(ISBN 978-3-85256-609-2.) Auch als eBook erhältlich.
Zoran Feric, 1961 in Zagreb geboren, ist Gymnasiallehrer für kroatisch und hat schon etliche Bücher geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurden.
Sein neuestes Werk wurde in Kroatien mit mehreren literarischen Preisen ausgezeichnet und handelt von einer Abiturientenklasse, die nach dem 2. Weltkrieg in Zagreb aufwächst. Im Tito-Jugoslawien geniessen diese Jugendlichen alle Freiheiten, sie gehören zu den Privilegierten ihrer Generation. Der Krieg, der ihre Eltern geprägt hat, ist für sie nur noch in den Erzählungen präsent, ihnen stehen alle Möglichkeiten offen. Was sie daraus machen, hat Zoran Feric mit beissendem Humor, grosser Erzählkunst und durchaus auch anrührenden Episoden dargestellt.
Zweite Reise
Die mittlerweile 70-jährigen treffen sich noch einmal auf der Tramuntana, dem gleichen Schiff wie einst auf der Abiturientenreise, um ein zweites Mal der dalmatinischen Küste entlang zu segeln. Schiff und Passagiere sind in die Jahre gekommen, alte Erinnerungen werden wach, alte Rivalitäten brechen wieder auf. Auch eine über 90-jährige Lehrerin setzt sich den Strapazen der Reise aus, was allerdings niemand weiss, es ist ihre letzte Reise. Sie wird unterwegs von Bord gehen und in ein Altersheim eintreten. Ihre ehemaligen Schüler können es nicht lassen, in der grossen Kiste zu stöbern, die sie mit an Bord genommen hat. Betroffen müssen sie erkennen, dass darin sozusagen das ganze Leben der alten Dame verstaut ist, alles was ihr noch geblieben ist, hat sie mitgenommen. Porzellan. Porträts, Bücher, Dinge, die sie bis zum Ende um sich haben möchte. Nun liegt sie in ihrer Kabine und denkt über die Menschen nach, die sie erzogen hat. Die zu erziehen ihr aber offenbar nicht gelungen ist. Tihomir Romar ist die Hauptfigur in diesem Roman und wie ein roter Faden zieht sich seine verhängnisvolle Liebesgeschichte durch das ganze Buch. Schon während der Schulzeit lernt er Senka kennen. Die ehemalige Mitschülerin taucht immer wieder in den Rückblenden auf, sie bestimmt das ganze Leben des Tihomir, eines angesehenen Gynäkologen in Zagreb. Senka ist zwar verheiratet, hat eine Tochter und wohnt eigentlich in der Schweiz, aber um ihre Mutter zu pflegen, weilt sie einige Zeit in Zagreb, wo die beiden ihre erste Liebesbeziehung anfangen. Diese Beziehung ist ein einziges auf und ab beiderseits, Trennungen, wieder zueinander finden, das halbe Leben lang. Eine Liebe, die ständig wieder in Frage gestellt wird und zu einer Obsession wird, aus der beide kaum wieder herausfinden. Schliesslich kommt es zum vorerst endgültigen Bruch und Tihomir heiratet eine andere Frau. Dreissig Jahre später sitzt Tihomir in Zagreb in einem Cafè, fühlt sich von einem Kellner schlecht behandelt, und plötzlich wird ihm bewusst, dass er nun zu den „Alten“ gehört. Ganz treffend beschreibt Zoran Feric diese Gedanken: Das bedeutete, von nun an, in Hinkunft, ich bin alt. Viel älter, als ich noch gestern war oder heute Morgen. Wer hätte gedacht, dass das Alter an einem einzigen Tag kommt, dass es von einem frechen Kellner serviert wird wie ein schaler Kaffee“. Auf dem Schiff schliesst sich dann schliesslich der Kreis, Tihomir und Senka finden nach einer turbulenten Fahrt wieder zueinander, ein wenig altersmilde geworden, und auch die anderen der bunten Gesellschaft haben das Experiment, für einen Augenblick die Jugend zurück zu holen, einigermassen unbeschadet überstanden.
Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel
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