Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Moccia, Federico. Ich steh auf dich. - Berlin : List, 2007.
(ISBN 978-3-471-79559-0)
"Ich will sterben. Das hatte ich gedacht, als ich aufgebrochen war. Als ich vor ungefähr zwei Jahren ins Flugzeug gestiegen war. Ich wollte Schluss machen. Genau, ein simpler Unfall war das Beste. Damit sich niemand schuldig fühlte, damit ich mich nicht schämen musste, damit niemand nach dem Grund fragte…"
Nach der schmerzhaften Trennung von seiner ersten grossen Liebe Babi reist Step für zwei Jahre nach Amerika, um seine Trauer zu vergessen und ein neues Leben zu starten. Das Buch "Ich steh auf dich" setzt bei der Rückkehr nach Rom ein, wo Step mit alten und neuen Problemen zu kämpfen hat. Er ist nun erwachsener, und auch in seiner Heimatstadt hat sich vieles verändert; doch seine Freunde sind noch immer die Alten. Die Bewältigung der alten Liebe und der Start der neuen Liebe mit Gin werden von Federico Moccia mit reichlich Gespür und vielen Details erzählt. Step findet einen Job beim Fernsehen, und sein Leben läuft geregelter ab als in früheren Zeiten. Trotzdem gibt es sowohl im Job als auch in der Familie Probleme, die gelöst werden müssen. Doch nach vielen Hochs und Tiefs kann man von einem Happy End reden, auch wenn der Schluss die eigene Fantasie anregt.
"Und so fahre ich davon, sehe, dass sie überrascht ist, dass sie lächelt. Und ich bin glücklich, wie ich es schon lange nicht mehr gewesen bin… Schuldig nur dieses Schriftzugs. Riesengross. Über die ganze Hauswand gegenüber. Leuchtend, direkt, wahr. Und nun habe ich keine Zweifel mehr. Ich habe keine Gewissensbisse, keine Schatten, habe nicht gesündigt, habe keine Vergangenheit mehr. Ich habe nur grosse Lust, von vorne zu beginnen. Und glücklich zu sein. Mit dir, Gin. Ich bin mir sicher. Ja, genauso ist es. Sieh mal, ich habe es auch geschrieben. Ich steh auf dich."
Federico Moccia wurde 1963 in Rom geboren. Seine Bücher haben bei den italienischen Jugendlichen Kultstatus erreicht und sind auch im deutschsprachigen Raum schon sehr beliebt. Wie der erste Band "Drei Meter über dem Himmel" beschreibt auch die Fortsetzung "Ich steh auf dich" die italienische Jugend sehr realistisch. Der Brauch, als Liebesschwur Vorhängeschlösser an der Milvischen Brücke in Rom zu befestigen, wurde zum Beispiel durch Moccias Bücher popularisiert. Wer also mehr über die Lebensweise der italienischen Jugend in Rom erfahren möchte, sollte sich nicht scheuen, Federico Moccias Buch in die Hand zu nehmen, um spannende Stunden mit Lesen zu verbringen.
Annina Schönenberger, Volksbibliothek Appenzell
Meier-Nobs Ursula. Der Sakralfleck : Roman. Zytglogge, 2007.
(ISBN 978-3-7296-0744-6)
Lucas Mongolenfleck und Suworows Feldzug über die Schweizer Alpen
Der Sakralfleck oder Mongolenfleck bezeichnet ein dunkelblaues Geburtsmal in der Kreuz-Steiss-Gesäss-Gegend. Aber das ist nur am Rande von Bedeutung.
Unterschiedlicher könnten Kinderleben nicht verlaufen, das des Mongolenjungen und das des Findelkindes in Mailand. Angesiedelt ist die Geschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bator wächst in behüteter Umgebung in den Steppen der Mongolei mit Eltern, Grosseltern, Onkeln und Tanten auf. Er erzählt uns sein Leben selber, vom Alltag, den Festen, den Freuden, den Streichen, den Zwängen, den Niederlagen. Ungeachtet des schier grenzenlosen Horizonts ist es eine Welt in festen Traditionen, die durch Riten, Sitten und Bräuche dem unbändigen Jungen enge Schranken setzt. Bator verliebt sich in Telema, verstösst gegen die Konvention. Sein Vater bringt ihn ins buddhistische Kloster, wo Bator Schreiben und Lesen lernt, aber auch durch den heilkundigen Onkel in die Krankenpflege eingeweiht wird. Bators Leben ist vorgezeichnet, dennoch kommt alles anders.
Julia-Johanna, als dreiwöchiger Säugling im Mailänder Waisenhaus abgegeben, kennt ihre Herkunft nicht. Einzig ein halbes Medaillon, darstellend den heiligen Christophorus mit dem Jesuskind, nebst einem Brief erinnern an ihre Mutter. Julia erlebt ein paar wunderbare Jahre umsorgt von ihren Pflegeeltern. Nach deren Tod muss sie wieder zurück ins Findelhaus, in die Pia Casa di San Caterina. Strenge Normen, harte Arbeit, Kargheit und Lieblosigkeit prägen den Alltag der unerwünschten, vergessenen Kinder. Doch Julia wächst zu einer starken, jungen Frau heran, die ihr Leben mit Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen meistert.
Ursula Meier-Nobs (geboren 1939 in Bern) lässt ihre Protagonisten stets selber erzählen. Wie in ihren beiden vorherigen Romanen "Musche" (1998) und "Der Galeerensträfling" (2003) weiss die Autorin Fakt und Fiktion gekonnt zu verweben. Wir erfahren viel über die Alltagskultur der Mongolei, über Brauchtum, Buddhismus und Schamanismus. Auch vom elenden Leben im Mailänder Waisenhaus. Suworows Zug über Schweizer Alpen und die Begegnung mit der Mutter Oberin im Kloster wurden sehr sorgfältig recherchiert und nachgezeichnet. Meier-Nobs gelingt dadurch eine berührende Geschichte und macht für uns ein Stück Schweizergeschichte lebendig.
Vreni Mock-Kölbener, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
O`Nan, Stewart. Letzte Nacht. - Hamburg: marebuchverlag, 2008.
(ISBN 978-3-86648-074-2)
Ein grauer Winterabend Ende Dezember. Ein riesiger Parkplatz, den der Schnee wie ein weisses Tuch bedeckt, hier und da von Bulldozern zusammengeschoben: Eisberge, die in der Leere treiben.Unweit der Auffahrt zum Highway ein dunkler Kasten mit einer roten Leuchtreklame- ein Restaurant der Red-Lobster Kette, das morgen endgültig geschlossen wirdMitten im Sommer entführt Sie das Buch in den tiefsten amerikanischen Winter. Das letzte Stündchen des Restaurants "Red Lobster" hat geschlagen. Manny, der Geschäftsführer öffnet ein allerletztes Mal die Türen für seine Gäste und es ist kein leichter Tag für ihn und seine Angestellten. Fast allen wurde gekündigt und Manny weiss nicht, wie er den letzten Tag über die Runden bringen wird. Aber trotzdem ist Manny fest entschlossen, auch an diesem Tag Alles zu geben, er will noch einmal alle Vorbereitungen für einen grossen Ansturm treffen.Jeder soll noch einmal sein Bestes geben im Wissen, dass morgen nichts mehr so sein wird wie es einmal war. Viele Gedanken gehen in seinem Kopf herum. Da ist die Serviererin Jaquie, mit der er ein Verhältnis hatte und die er nach diesem Tag nie mehr sehen wird. Da sind seine Angestellten, von denen er nur fünf an die neue Arbeitsstelle mitnehmen kann. Werden sie ihn an diesem besonderen Tag nicht im Stich lassen und kommen bei diesem Schneetreiben überhaupt Gäste? Ein letztes Mal nimmt er den schweren Schlüsselbund und schliesst die Türe zu seinem Reich auf. Wehmütig lässt er seine Hand über die Fritteusen und den Grill gleiten, kontrolliert die Eismaschine und wärmt die Suppen in den beiden grossen Töpfen auf. Er betrachtet die trägen, in den Ecken versammelten alten Hummer im Aquarium. Dann kommt der erste Angestellte, es ist der behinderte Eddy, der jeden Tag mit dem Bus an seine Arbeitsstelle gefahren wird. Langsam beginnt im Red Lobster der Alltag und Manny und seine Leute schlagen sich mit quengeligen Gästen herum, denen sie auch noch erklären müssen, dass am nächsten Tag das Restaurant nicht mehr offen sein wird. Jeder ist vor allem mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt und Manny muss an allen Ecken und Enden einspringen, beruhigen und Gäste beschwichtigen.Wie Mannys Kollegen diesen Tag bewältigen, was ihnen durch den Kopf geht und wie sie versuchen, den Gästen die Wünsche zu erfüllen, davon handelt dieses Buch.Als sich der Tag dem Ende zuneigt, haben wir auch viel Einblick in Mannys Leben und Gedankenwelt bekommen, einen Kerl mit verpassten Träumen und Sehnsüchten kennengelernt und mitgefühlt beim Abschied vom Red Lobster. Stewart O`Nan lebt in Connecticut und mit diesem, seinem zweiten Buch, ist ihm ein Meisterstück über das Leben der "normalen" Menschen gelungen. Seine Protagonisten sind wie du und ich, gefangen im Kampf ums tägliche Ueberleben und Miteinanderleben, aufgehellt von kleinen Lichtblicken und interessanten Begegnungen.Stephen King hat übrigens über dieses Buch geschrieben:"Letzte Nacht ist ein zutiefst bewegender Roman darüber, wie wir leben - und wie wir den nächsten Tag erreichen, ohne den Verstand zu verlieren".
Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel
Waldis, Angelika. Die geheimen Leben der Schneiderin. – Zürich : Kein & Aber, 2008.
(ISBN 978-3-0369-5519-3)
Angelika Waldis Jolanda Hansen sitzt in ihrem Nähatelier und ändert anderer Leute Kleider und in Gedanken auch deren Leben. Ihr eigenes ist festgefahren und illusionslos. Samstag ist Heimtag, da besucht sie ihre verwirrte Mutter, manchmal auch ihren schweigsamen Vater, für den seine Schwester Aprikosenkuchen bäckt. Ihr Liebstes ist Maxi, ihre erwachsene Tochter. Als Jolie noch ein Kind war, sammelte sie besondere Steine und das Glück, das damals noch vom Himmel fiel. Doch die glücklichen Jahre brachen ab, als sie elf war und ihr Bruder Franz im See ertrank. 36 Jahre ist es her seit dem schrecklichen Unglück, als der Vater zu Stein wurde und die Mutter „versank“.
Sätze sammeln
Heute sammelt Jolie besondere Sätze, die sie in ihrem Geschäfts-Journal ganz hinten aufschreibt – Gedanken wie: „Wie wäre es, eine schwarze und eine weisse Hand zu haben?“ – „Ich falte die gewartete Zeit zusammen und gehe.“ – „Hoffnung vergrössert die Flügelspannweite.“ Oder sie schreibt in Gedanken Briefe an ihre Tochter.
Nun plant Jolie ein Familienfest zum 80-sten Geburtstag der Eltern und kommt so auch wieder in Kontakt mit ihren nicht vermissten Geschwistern. Alles hätte seine feste Ordnung, wäre da nicht das geheimnisvolle, fest verschnürte Paket und ihre plötzlich aufkeimenden Zweifel am Tod ihres Bruders. Was wäre, wenn Franz gar nicht ertrunken wäre? Jetzt lässt sich das Leben nicht mehr auf Distanz halten und sie beginnt, ihr eigenes Lebensmuster aufzutrennen. Sie macht sich auf die abenteuerliche Suche nach ihrem Bruder. Sie weiss, es ist nicht nur Franz, den sie sucht, vielmehr sind es ihre eigenen, versunkenen Jahre.
Die Autorin Angelika Waldis
Die Autorin ist 1940 in Luzern geboren, besuchte das Lehrerseminar und studierte anschliessend Anglistik und Germanistik. Sie arbeitete kurze Zeit als Lehrerin und danach als Journalistin. Zusammen mit ihrem Mann, dem Grafiker Otmar Bucher, gründete sie 1982 die Schülerzeitschrift SPICK. 1999 erschien ihre Erzählung „Tita und Leo – eine Feriengeschichte“, für die sie 2000 den Schweizer Jugendbuchpreis erhielt. Mittlerweile sind von ihr mehrere Bücher, auch für Erwachsene, erschienen. 2006 erhielt sie für „Verschwinden“ die Literarische Auszeichnung des Kantons Zürich.
Die geheimen Leben der Schneiderin ist eine Neuerscheinung und Waldis’ erster Roman. Sie erzählt sehr fantasievoll und in stimmungsvollen Bildern. Mit ihren Figuren geht sie erbarmungslos und doch liebevoll um. Ihr gelingt ausgezeichnet, Jolies festgefahrenes Leben, das plötzlich aus den Fugen gerät, fein und in heiteren Farben zu zeichnen. Ein kleines, doch spannendes Buch (mit nur 159 Seiten), das grosses Vergnügen bereitet!
Elisabeth Siller, Bibliothek Herisau
Maalouf, Amin. Die Häfen der Levante . - Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 2004.
(ISBN 3-518-45614-8)
„Ich lief ihm in Paris über den Weg, ganz zufällig, in der Metro, im Juni 1976.“
In der Rahmengeschichte erzählt ein Journalist eine Begegnung mit einem Mann, den er von einem Bild in seinem Geschichtsbuch kannte. Dieses Foto war nicht etwa ein Portrait, sondern es zeigte eine Menschenmenge in einem Hafen der alten Welt, wo Widerstandskämpfer der Résistance empfangen wurden. Und unter diesen „Helden“ war ihm immer ein junger Mann besonders in die Augen gestochen und dieser Mann, zwar um Jahre gealtert, aber immer noch unverkennbar, stand vor einem Stadtplan bei der Metrostation. „Kann ich Ihnen helfen?“. Mit diesen Worten kamen sie langsam ins Gespräch und der Mann begann nach anfänglichem Zögern aus seinem Leben zu erzählen.
„Mein Leben begann, sagte er, ein halbes Jahrhundert vor meiner Geburt.“ So schildert er nicht nur sein Leben, sondern auch die Geschichte seiner Familie im Vorderen Orient, in der immer wieder Freundschaften entlang der ethnischen Grabenbrüche eine wichtige Rolle spielten. Sein Vater, ein Muslim, war in Adana im Osten der Türkei aufgewachsen und mit seinem armenischen Lehrer herzlichst befreundet. Beim Beginn des Völkermordes an den Armeniern flüchteten die beiden Familien in den Libanon, ein, den Religionen gegenüber, tolerantes Land. Hier wuchs der Erzähler in einem „frauenlosen“ Haushalt auf, da seine Mutter bei der Geburt seines jüngsten Bruders starb. Nach dem Abitur wollte er in Frankreich Medizin studieren a) weil die medizinische Fakultät in Montpellier sehr renommiert war und b) weil er so seinem dominanten Vater entfliehen konnte, der aus ihm, dem schüchternen, feingliedrigen Mann einen Helden machen wollte. Kaum hatte er mit dem Studium begonnen, zogen am politischen Himmel Europas die schwarzen Wolken des 2. Weltkrieges auf und Ossyan landete, ungewollt, in den Reihen der Résistance. Dort lernte er seine spätere Frau Clara kennen, eine junge Jüdin, die ihre Familie in einem Konzentraionslager verlor. Nach dem Krieg kehrte Ossyan, als Kämpfer in der Résistance nun doch zum Helden geworden, nach Beirut zurück.
Nach einigen Irrungen und Wirrungen trafen sich Ossyan und Clara in Beirut wieder, heirateten und zogen zu Claras Onkel nach Haifa.. Als Clara hochschwanger war, starb Ossyan’s Vater und der Sohn reiste, wegen der sich anbahnenden Spannungen zwischen den arabischen Staaten und Israel auf abenteuerlichen Wegen nach Beirut zur Beerdigung. Die politischen Wirren erlaubten es dem jungen Ehemann nicht mehr zu seiner Frau in Haifa zurückzukehren. Sein Bruder, ein Opportunist und in unerlaubten Geschäften tätig, empfand ihn als Störfaktor und brachte es fertig den kerngesunden 29-jährigen Mann in eine „psychiatrische Klinik einzuweisen“. Hier wurden die Patienten medikamentös willenlos gemacht und dösten stumpf vor sich hin. Erst als ihn seine, inzwischen bald 20-Jährige Tochter, aufsuchte erwachte in ihm ein Überlebenswille, der ihm dann half, bei Beginn der Wirren des Bürgerkrieges aus dieser Klinik zu fliehen. In der Stadt fand er nur noch das zerstörte Elternhaus und den ermordeten Bruder. So entschloss er sich nach Frankreich zu reisen, wo er seine Frau in einem Brief um ein Rendezvous in Paris bittet. Nun ist morgen der Tag dieses Zusammentreffens. Wird Clara kommen?
Lucette Winzeler Dorfbibliothek Stein
Bizot, Véronique. Meine Krönung : Roman ; aus dem Franz. von Tobias Scheffel ... [et al.]. – Göttingen : Steidl Verlag, 2011.
(ISBN 978-3-86930-230-0) Auch als Hörbuch.
„Ich werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, auszugehen.“
Und dies, weil Gilbert Kaplan, ehemaliger Wissenschaftler in fortgeschrittenstem Alter, unverhofft eine bedeutende Auszeichnung für eine vor Jahrzehnten gemachte Entdeckung erhalten soll, an die er sich kaum mehr erinnern kann. „Meine Krönung“ nennt er dieses Ereignis, welches er mehr als Störung denn als willkommene Abwechslung in seinem ruhig ausklingenden Leben erachtet. Gut gibt es da seine Haushälterin Madame Ambrunaz, die ihm, wie in all den Jahren zuvor, auch jetzt in unausgesprochener Zuneigung beisteht.
Erinnerungen
Die unerwartete Ehrung löst Erinnerungen aus. Nicht, wie vielleicht erwartet, an seine wissenschaftliche Vergangenheit; diese bleibt im Vagen. Es sind Erinnerungen an nahestehende Verwandte, seinen Sohn, seine frühzeitig in den Freitod gegangene Frau. Der Ich-Erzähler nimmt sich in seinem hohen Alter aber die Freiheit, diese Erinnerungen einfach bruchstückhaft an sich vorbeiziehen zu lassen, ohne ihnen weiter auf den Grund zu gehen, ohne den Sinn des Ganzen zu suchen. Als bleibend erweisen sich nur die Liebe zu seiner verstorbenen Frau, zu seiner Schwester, die vor vierzig Jahren aus seinem Leben entschwunden ist, und die Ratlosigkeit gegenüber der Gleichgültigkeit, die er seiner zweiten Schwester und auch seinem eigenen Sohn entgegen bringt.
(K)ein Entrinnen
Das Telefon klingelt ununterbrochen, das Unerwartete bricht über Gilbert Kaplan herein. Auf einmal ist es ein schier unüberwindliches Problem, dass er keinen ihm noch passenden Anzug im Schrank findet, und ihm die Füsse schon beim blossen Gedanken an salontaugliche Schuhe weh tun. Er wird durch all das so sehr in seinem Sein gestört, dass er darüber nachdenkt, ob es nicht vielleicht gescheiter wäre, einfach kurz vor der Preisverleihung zu sterben. Aber er stellt sogleich fest, dass dies gar nicht so einfach ist. Zu einer kleinen Flucht verhilft ihm aber seine getreue Madame Ambrunaz, die ihn nach langen Jahren wieder - oder besser gesagt, noch ein letztes Mal - ans Meer chauffiert.
Véronique Bizot spielt gekonnt mit subtilen Andeutungen, verschweigt bewusst Nebensächlichkeiten. Sie zeichnet Gilbert Kaplan als kantigen, leicht misanthropen alten Mann, der vom Leben nichts mehr erwartet, und lässt doch auch immer einen gelassenen und dadurch fast heiteren Unterton mitschwingen. Ein wunderbares, kleines Buch, eine Geschichte, die ein unerwartetes Ende nimmt und eine Charakterbeschreibung, die einen tief anrührt, und manchmal schmunzeln lässt, wenn man sich auf die melancholische Grundstimmung einlassen mag.
Andrea Richle Özütürk, Bibliothek Gymnasium Appenzell
Oates, Joyce Carol. Du fehlst : Roman ; aus dem Amerikan. von Silvia Morawetz. - Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2008.
(ISBN 978-3-10-054014-0)
„Man sieht jemanden zum letzten Mal und weiss nicht, dass es das letzte Mal ist. Hätte man das alles, was man jetzt weiss, doch schon damals gewusst. Doch man wusste es nicht und jetzt ist es zu spät. Und man sagt sich, wie hätte ich das wissen sollen, das kann man doch nicht wissen.“
Mit diesen Worten beginnt Carol Oates in diesem Roman die Geschichte von Mom Gwen und ihren Töchtern, die sich mit dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter auseinandersetzen müssen.
Mai 2004
Die Familie trifft sich bei Mom zum Muttertag. Die Familie, das sind Nikki, unverheiratet und unkonventionell, Clare, verheiratet und ganz brave Tochter mit zwei Kindern. Und da sind viele Bekannte von Mom, die ein offenes Haus hat und seit dem Tod ihres Mannes Anlaufstelle für die verschiedensten Bedürfnisse ihrer Verwandten und Bekannten ist. Und ihre Arglosigkeit und Freundlichkeit wird ihr schliesslich zum Verhängnis. Ein junger, drogensüchtiger Mann, den sie an einer Tankstelle im Auto mitnimmt, zwingt sie, in ihr Haus zu fahren. Dort durchwühlt er alles und bringt sie anschliessend brutal um.
Und wie gehen die Töchter mit diesem tragischen Ereignis um? Jede versucht auf ihre Weise, das Geschehen zu verarbeiten. Dabei tut sich Nikki, die Jüngere, besonders schwer, Sie braucht Zeit, um sich ihrer Mutter wieder zu nähern, ihre Lebensweise zu verstehen.
"Das war das Jahr, sagten die Leute, in dem Nikki Eaton zerbrach. Mir kam es so vor wie das Jahr, in dem ich mich neu zusammensetzte, stärker als ich es gewesen war, sagte Nikki."
Nach Spannungen mit ihrem Freund zieht sie in das Elternhaus ein, versucht herauszufinden, wie ihre Mutter gelebt hat und stösst dabei auf überraschende Entdeckungen, verliert sich in Jugenderinnerungen und kommt so ihrer Mutter immer näher. Sie trifft sich mit Bekannten der Verstorbenen und muss sich mit dem Detektiv auseinandersetzen, der den „Fall“ bearbeitet. Für Nikki ist es bis zum Schluss eine ganz spannende Reise zu sich selbst und erst noch mit einem überraschenden Ausgang. Und auch bei Clare scheint der Tod der Mutter einiges auszulösen, auch sie überdenkt ihr Leben und entschliesst sich für Veränderungen.
Joyce Carol Oates, geboren 1938, ist eine der profiliertesten, amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Auch in diesem Roman ist es ihr einmal mehr gelungen, den LeserInnen einen Blick hinter die Fassade des „American Dream“ zu ermöglichen.
Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel
Mölkky: Wädenswil, Carletto AG
Mölkky – das kultige Spiel aus dem Norden
Die einfachsten Spiele sind oft die besten. Mölkky ist ein Wurfspiel, das ursprünglich aus dem Südwesten Finnlands kommt – ein ideales Outdoorspiel. Es geht darum, Holzstäbe geschickt umzukegeln. Dazu braucht es ein paar Mitspielende und ein Spielfeld im Freien. Besondere körperliche Fitness ist nicht nötig.
Mölkky eignet sich für Jung und Alt gleichermassen und kann mit einer beliebigen Anzahl Personen gespielt werden – je mehr desto besser. Mit einem Wurfholz wird auf zwölf nummerierte Holzkegel geworfen. Die Anzahl der umgeworfenen Holzkegel wird zusammengezählt. Ziel ist es, genau fünfzig Punkte zu erreichen. Wer das schafft, gewinnt.
Mölkky ist umweltfreundlich und geht um die Welt
Mölkky ist alles in allem ein geselliges, kommunikatives Spiel voller Überraschungen, das sich jedesmal anders entwickelt. Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle: Geschicklichkeit beim Werfen und natürlich die Strategie, um zu Punkten zu gelangen. Aber auch die Bodenbeschaffenheit hat einen Einfluss darauf, wie weit schliesslich das Wurfholz fliegt oder rollt. Der Wurf kann auf jede erdenkliche Weise ausgeführt werden.
Mölkky wird in Finnland aus Kiefernholz handgefertigt. Das Holz entspricht den FSC-Normen. Die tragbare Kiste – angefertigt aus demselben Holz – enthält ein Wurfholz (Mölkky) und zwölf nummerierte Holzkegel. Die solide Verarbeitung und das hochwertige Material machen das Spiel zu einem langlebigen Vergnügen.
In skandinavischen Ländern ist Mölkky das Outdoor-Spiel, das sich am schnellsten verkauft. Weltweit finden sich immer mehr begeisterte Spielerinnen und Spieler; seit 2004 gibt es jedes Jahr eine Mölkky-Weltmeisterschaft im finnischen Lahti.
Daniela Schuler und Astrid Eichmüller, Ludothek Herisau
Schmidbauer, Wolfgang. Die einfachen Dinge. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2003.
(ISBN 3-423-36308-8)
Von dummen und intelligenten Dingen
Hinter Schmidbauers simplem Titel «Die einfachen Dinge» verbirgt sich ein komplexes Thema. Das Buch ist Lexikon und Unterhaltung. Man kann es schmunzelnd oder nachdenklich betrachtend lesen. Schmidbauer beobachtet kritisch und witzig den Konsummenschen und stellt die Frage, was eigentlich wahrer Fortschritt sei. Er stellt die verwirrende Vielfalt, die technischen Extravaganzen unserer Konsumgüter den «einfachen Dingen» wie Axt, Hammer oder Sense gegenüber.
Auto
Die ökologische Kritik an dem hohen Verbrauch und dem Abgasvolumen veralteter Motorfahrzeuge wird heute von der Industrie ernst genommen; eine psychologische Kritik an den verwöhnenden Aspekten der Auto-Hochtechnologie nicht. Wenn die modernen Fahrzeuge dem Fahrer geistige Leistungen abnehmen, die zu Zeiten einer unvollkommeneren Technik unentbehrlich waren, dann besteht die Gefahr, dass die verlorenen Reize durch überhöhte Geschwindigkeit sozusagen künstlich gesucht werden. Es fehlt gegenwärtig nicht an perfekten, wunderbar gemachten und teuren Fahrzeugen; hier hat die Konkurrenz der Ingenieure Grossartiges erreicht. Was fehlt, sind Fahrzeuge, die billig, leicht, sparsam und vor allem geistig anregend sind, weil sie den Bastler wecken, der in jedem Menschen schlummert. Bastler sind vor vielen psychischen Gefahren der Konsumgesellschaft geschützt: Sie haben zu tun, sie sind selten depressiv, sie sind nicht verwöhnt, sie neigen nicht zur Kriminalität, sie setzen sich ständig mit den Grenzen ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten auseinander. Ein Tag auf deutschen Autobahnen macht für mich den Eindruck unabweisbar, dass kaum noch Bastler unterwegs sind.
Bleistiftspitzer
Kindern zeigen wir, dass ein Stück Blei, wie wir es zum abergläubischen Giessen an Silvester benutzen, auf dem weissen Papier einen blassen Strich hinterlässt. Der Bleistift , den wir heute kennen, schreibt nicht mehr mit Blei, sondern mit Grafit. Er ist eines der intelligentesten Schreibwerkzeuge, von unübertroffener Bequemlichkeit und Ökonomie. Keine Füllfeder, kein Kugel- oder Faserschreiber kann so viele Zeichen mit so hoher Verlässlichkeit und so guter Überschaubarkeit für so wenig Geld bieten. Die färbende Mine ist von einem Mantel aus Holz umgeben, der sie bruchsicher macht. Abgenützt versteckt sie sich in einem Holzkragen; der Bleistift muss gespitzt werden. Meine Mutter nahm ein scharfes Federmesser und schnitt fünf bis sieben Späne so geschickt ab, dass die Bleistiftspitze wieder frei lag und die Mine einen feinen Strich zeichnete. Ein Spitzer ist ein dummes Ding. Nur ausgesprochen teure Geräte spitzen zuverlässig. Höchste Schärfe ist nötig, um Holz und Mine in einer Drehbewegung so glatt zu durchschneiden, dass eine empfindliche Mine nicht immer wieder bricht, weil die Scherkräfte zu gross sind. Aber jedes gepflegte Taschenmesser tut denselben Zweck und erspart einige Stunden Feldenkrais- oder Montessori-Pädagogik. Es weckt die schlummernden Fähigkeiten des Menschen, seine Feinmotorik so zu ordnen, dass eine fünf- bis sechsseitige, perfekte Spitzenpyramide entsteht.
Wolfgang Schmidbauer, geboren 1941, lebt als freier Schriftsteller, Psychotherapeut und Lehranalytiker in München. Seine An- und Einsichten präsentieren sich nicht als theoretische Kulturkritik, sondern konfrontieren uns mit Alltag, unsinnigen und sinnstiftenden Bedürfnissen. Fortschritt geht einher mit der Entsinnlichung der Dinge, mit Machbarkeitswahn und Hetze. «Die einfachen Dinge» aber lehren uns Bedächtigkeit, Geduld und sinnvolles Erleben.
Karin Neff, Volksbibliothek Appenzell
Remin, Nicolas. Schnee in Venedig. - Reinbek : Kindler bei Rowohlt, 2004.
(ISBN 3-463-40465-6)
Es ist kalt, Schnee fällt und man schreibt den Februar 1862. Venedig, Teil des Habsburger Reiches, ist in einer angespannten, aufgeheizten Stimmung; die Italiener rufen immer lauter nach Unabhängigkeit.
Der Raddampfer „Erzherzog Sigmund“ trifft, nach einer stürmenden Nacht, aus Triest kommend, in Venedig ein. Emilia Fasetti will mit der Reinigung der ersten Klasse beginnen. Sie erblickt die beiden Toten auf dem Bett. Bevor sie jedoch ihren Angstschrei ausstösst, greift sie wie im Reflex nach den beiden Umschlägen mit der goldgeprägten Krone und steckt sie ein. Commissario Alvise Tron wird zu Rate gezogen. Als letzter Spross einer alt eingesessenen, verarmten venezianischen Adelsfamilie wohnt er mit seiner Mutter in einem Palazzo, an dem die Zeiten nicht spurlos vorübergegangen sind. Er wird mitten aus den Vorbereitungen für den Maskenball, den seine Mutter alljährlich zu einem kulturellen Höhepunkt zelebriert, gerufen, und beginnt mit den Ermittlungen. Der Fall wird ihm von Oberst Pergen von der österreichischen Militärpolizei entzogen. Als Begründung gibt dieser an, dass die Morde mit einem geplanten Attentat auf die Kaiserin Elisabeth, die zur selben Zeit in der Lagunenstadt weil, zu tun hätten: Der Hofrat habe wichtige Papiere bei sich gehabt, die sich mit der Vorbereitung befassten – und nun sind diese Papiere verschwunden. Somit sei die Aufklärung des Verbrechens Sache der Militärpolizei. Commissario Tron, der von der faszinierenden (und von ihm heimlich angebeteten) Principessa di Montalcino ersucht wird, sich weiterhin mit dem Mordfall zu befassen, beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln.
Kaiserin Elisabeth kann sich als Repräsentantin der habsburgischen Besatzungsmacht in Venedig nicht frei bewegen. Sie sucht jede Gelegenheit, inkognito die Gassen Venedigs zu durchqueren. Palazzo Tron – die Gäste des grossen Maskenballs tanzen – mit ihm eine schöne Unbekannte... Er wird zu einem Reigen des Todes...
Die Kulisse des winterlichen Venedigs, das gesellschaftliche Leben, die Habsburgerzeit rund um die faszinierende Gestalt der Kaiserin Elisabeth – und eine sich anbahnende Liebesgeschichte lassen im Hintergrund dieses Romans ihren eigenen Klang ertönen.
Die Einbeziehung von Kaiserin Elisabeth – Sissi - in die Geschichte ist fantasievoll – löst sie von ihren Herz-Schmerz-Filmen – und zeigt sie in einem völlig anderem Licht. Man wird entführt in eine fast vergessene, sinnliche Zeit, begleitet von einer gepflegten Metaphersprache und einer sorgfältig aufgebauten und entwickelten Handlung.
Mal sehen, was dem Debütanten Nicolas Remin, dem zurückhaltenden und stilvoll wirkenden Literaten und Philosophen, der sich viel Zeit für diesen Roman genommen hat, noch gelingt.
Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen
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