Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Köhlmeier, Michael. Bleib über Nacht : Roman. - München : Piper, 1993.
(ISBN 3-492-23462-3)
„Es begegneten einander ein Mann und eine Frau, der Mann trug eine Uniform mit einem Dolch als Schmuck, denn er war Leutnant. Die Frau schob ein Fahrrad. Sie hatte ihr Haar an den Schläfen mit zwei Kämmen gestrafft und im Nacken hochgestreckt. Ihr Gesicht war herzförmig, und an manchen Tagen ärgerte sie sich darüber, denn ihr Spiegelbild sah zufriedener aus, als sie es sich wünschte.“ Mit diesen Sätzen beginnt der grossartige Roman des in Vorarlberg lebenden Schriftstellers Michael Köhlmeier.
Eine Liebesgeschichte: Pauline und Ludwig verlieben sich in einer schwierigen Zeit während des Zweiten Weltkrieges. Als sie während eines Fronturlaubs heiraten, haben die beiden erst elf Stunden miteinander verbracht. Bis dahin hat sie ihm vierundachtzig Briefe geschrieben, er ihr zweiundfünfzig. In der Hochzeitsnacht ist es ihnen nicht möglich, miteinander zu schlafen, und so gilt die Ehe der im katholischen Glauben erzogenen Brautleute als noch nicht vollzogen. Am Tag nach der Hochzeit muss Ludwig zurück an die Front und nach dem Krieg bleibt er verschollen. Erst eineinhalb Jahre nach Kriegsende findet sie ihn in seinem Heimatdorf im Vorarlberg wieder. Sie sind einander fremd. Nichts ist so, wie es sich Pauline vorgestellt hat. Doch Pauline kämpft um ihre Ehe – und ihre Liebe.
Ein Heimatroman: Im vorarlbergischen Dorf bleibt Pauline eine Fremde. Argwöhnisch wird sie beobachtet – und beobachtet ihrerseits mit dem fremden Blick das Leben im engen Tal. In ruhiger, zurückhaltender Art beschreibt der Erzähler aus der Sicht von Pauline das Dasein dieser ärmlichen ländlichen Gesellschaft in der Nachkriegszeit. Die wortkargen Dialoge der Einheimischen und die zweifelnden Selbstgespräche von Pauline schaffen eine beklemmende Atmosphäre. Ludwigs Heimat hat enge Grenzen, die ihn am Handeln hindern und Pauline keinen Platz zum Leben und Lieben lassen. Pauline flüchtet sich in eine Affäre mit dem Dorflehrer – und in ihre Fantasiegeschichten, in ihre Romane. Die belastete Liebesgeschichte zwischen Pauline und Ludwig entwickelt sich zum tragischen Heimatroman: Pauline reisst sich los, verlässt Ludwig und sein Heimatdorf.
Eine klassische Erzählung: Michael Köhlmeier zitiert mit dem Titel „Bleib über Nacht“ und mit dem vorangestellten Bibelzitat das alttestamentarische „Buch Ruth“: eine Geschichte vom Warten und Hoffen. Der Aufenthalt von Pauline bei Ludwig dauert nur zwei Monate. Als sie abreist, weiss Pauline nicht, ob sie ihn noch liebt. „Ihre gemeinsame Sache war vernichtet. Unwiderruflich.“ Aber ihre Geschichte ist noch nicht fertig. Nach zwei Jahren sucht Pauline Ludwig vergeblich in seinem Dorf, nach drei Jahren klopft sie an seine Wohnungstür in Wien. Er öffnet die Tür, und sie sagt: „Wir tun es oder ich gehe wieder. Auf der Stelle.
Matthias Weishaupt, Kantonsbibliothek Appenzell A.Rh.
Kronauer, Brigitte. Verlangen nach Musik und Gebirge : Roman. - Stuttgart : Klett-Cotta Verlag, 2004.
(ISBN
Nach Oostende geht die Fahrt, in die „baugrubengraue“ Stadt am Meer, wo sich hinter „endlosem Häuserwall die Bevölkerungen des Kontinents dahinter stauen und ducken“. Ein misanthropischer Roman von Brigitte Kronauer ? Nein, im Gegenteil. In ihrem neuen Roman Verlangen nach Musik und Gebirge führt sie ihre Protagonisten in die Welt des flämischen Malers James Ensor (1860 – 1949). Auf seinen Spuren wandelt gleichsam entsprechend seinem Bild DIE SELTSAMEN MASKEN , welches auch als Bildmotiv des Buchumschlags dient, eine recht irrwitzige Gesellschaft. Roy, der hinkende Jurastudent aus Leipzig, begleitet sein altes Grossmütterchen, welche ihn auch finanziell unterstützt, jedoch sehr bald lästig fällt angesichts seiner Vorliebe für eine junge Italienerin mit Schwanenhals. Diese wiederum wird begleitet vom ansehnlichen Maurizio, der seinerseits die Aufmerksamkeit von Willaert, einem Antwerpener Parfumeur und Bonvivant auf sich zieht. Ebenfalls mit von der Partie: de Roukl, der Schabrackenmolch, erfolgloser Künstler und Hypochonder sowie Frau Fesch, alter ego der Autorin und sensible Beobachterin des Maskenspiels. „Warum spioniert sie uns denn so nach?“ Gegen den Augenschein Frau Fesch schreibt an einem Libretto – nur die Musik fehlt noch dazu. Dieses wird sodann von Willaert eindrücklich vorgetragen. Er führt seine Mitreisenden zudem zu den Wirkungsstätten des Malers und ans Meer. Dabei werden die Beziehungen der Protagonisten untereinander immer diffuser – kein Gefühl ist eindeutig, aber allen ist eine grosse Sehnsucht zueigen. Was die so reden Brigitte Kronauer versteht es meisterhaft, ihren Figuren Geschichten anzuziehen und Sehnsüchte in sie hineinzuprojezieren. „Es geht mir nie um authentisches Erzählen. Ich schreibe gegen den Alltagsjargon“. Ihr grosses Vorbild ist Joseph Conrad, nach dessen Aussage Literatur, Kunst und Musik die Welt erträglich machen. Dieses Motto hat auch Brigitte Kronauer für ihren neuen Roman gewählt und fügt hinzu: „... zu ertragen als Begleitumstand einer Liebe.“ Zum Schluss hat sich augenfällig nichts geändert, oder doch ? Schliesslich hat ein jeder mit seinen inneren Dämonen gekämpft und seelische Spuren davongetragen - so wie im rechten Leben, also doch authentisch.
Gisela Bischofberger, Bibliothek Rehetobel
Aitmatow, Tschingis. Dshamilja. - Zürich : Unionsverlag, 1988.
(ISBN 3-293-00135-1)
Ich möchte ein Buch und einen Autor vorstellen, die es in der Weltliteratur zu Ruhm und Ehre geschafft haben. Vielen von Ihnen werden die Namen bekannt sein: Tschingis Aitmatow mit seinem Frühwerk Dshamilja, das er 1958 als Abschlussarbeit seiner literarischen Ausbildung in Moskau schrieb und das schon ein Jahr später, 1959, in die französische Sprache übersetzt wurde. Tschingis Aitmatow und seinen späteren Werken wurden damit die Tore, wie der Autor von sich sagte, zur Weltliteratur geöffnet.
Tschingis Aitmatow ist heute 76 Jahre alt - geboren wurde er in Kirgistan. Seine Werke leben von Spannungen und Widersprüchen zwischen traditionellem Leben und neuen Gesellschaftsordnungen, zeigen uns neue Blickwinkel in das Leben von Menschen, die in der Zeit des zweiten Weltkrieges in Russland unter schwierigen Verhältnissen lebten. Seine Bücher sind in zirka 90 Sprachen übersetzt worden. Dshamilja gehört zu den meistübersetzten Werken der russischen Literatur.
Dshamilja ist eine Novelle, die uns in ein kleines Dorf eines nördlichen Teils des heutigen Kirgistan versetzt - Kirgistan liegt nordwestlich von China und wird von den Staaten Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan begrenzt. Durch die liebenden Augen eines Fünfzehnjährigen - dessen uns im Buch bekannt werdender Lebensabschnitt viele Gemeinsamkeiten mit dem Erlebten des Autors aufweist - wird die Geschichte der jungen Dshamilja im Sommer 1943 erzählt. Sie ist mit dem ältesten Bruder des Erzählenden verheiratet und verliebt sich in der Zeit, in der ihr Ehemann an der Front kämpft, in Danijar, einen jungen Mann, der wegen einer Verwundung frühzeitig vom Krieg in seine ursprüngliche Heimat zurückkehrt. Hingerissen von der tiefen Liebe, die Danijar zu seiner Heimat spürt, verändert sich das Leben Dshamiljas und Danijars, aber auch das des Erzählenden.
Die kurze Geschichte, in der nicht ein Wort zuviel geschrieben scheint, zeigt uns, dass die Liebe keine Grenzen kennt: keine Familiegrenzen, keine Gesellschaftsform, kein Wohlstand, kein äusserer Umstand kann die Liebenden aufhalten. Wir fühlen beim Lesen die unausgesprochenen Worte, riechen die Düfte der kirgisischen Steppe und sehnen uns danach, dieses Stück Erde, das von Bergen gesäumt wird und der unglaublichen Weite der Steppe lebt, kennen zu lernen.
So kurz und einfach, so unpathetisch, wie diese Erzählung geschrieben ist, so reichhaltig an verschiedenen Ebenen ist sie: Dshamilja ist eine unverzichtbare Erzählung für all diejenigen, die an die tiefe Liebe des Menschen, an die Liebe zu seiner Heimat und zu seinen Traditionen glauben. Dieses Archaische macht Dshamilja in der Geschichte zeitlos. Louis Aragon, der das Werk 1959 ins französische übersetzte, schreibt in seinem Nachwort mit Überzeugung von „der schönsten Liebesgeschichte der Welt“. Sicher, die Welt wäre um eine wunderschöne Geschichte ärmer, wenn diese unentdeckt geblieben wäre - doch entdecken muss dies jede Leserin, jeder Leser, für sich selbst.
Katharina Schewe, Bibliothek Urnäsch
Chudley, Carold Graham; Field, Dorothy. Gartengespräche unter Frauen; vom Pflanzen, Wachsen und Vergehen. 3. Aufl. - München: Frederking & Thaler Verlag, 2002.
(ISBN 3-89405-413-1)
„Berge von Gartenbüchern, stehen in den Regalen unserer Buchhandlungen und Bibliotheken. Sie sind schön glänzend, reich ausgestattet, aber dennoch steril, wie ein Malen-nach-Zahlen-Set. Können diese Gartenbücher tatsächlich Wissen vermitteln und den Leuten als Inspirationsquelle dienen? Ich möchte den Menschen gern vermitteln, wie einfach es (das Gärtnern) ist. Wenn man so viel über Gartenarbeit schreibt, dass man ein Buch damit füllen kann, hat man bereits zuviel geschrieben. Denn für den Anfang braucht man nur wenig Information, sondern einfach Vertrauen.“Diese Worte stammen von Carol Graham Chudley, die während vielen Jahren an ihren jeweiligen Wohnorten in den USA und Kanada ihre Grundstücke und Gärten bepflanzte. In Vancouver Island beginnt sie mit ihrer Nachbarin Dorothy Field einen Briefwechsel über ihre Gärten.Carol, Mutter von erwachsenen Kindern, Töpferin, Lehrerin und Autorin, lebt seit zehn Jahren mit ihrem Mann auf Vancouver Island, Kanada. Dorothy, ebenfalls Mutter von erwachsenen Kindern, Papierkünstlerin und Autorin lebt und gärtnert seit mehr als zwanzig Jahren mit ihrem Mann auf einer Farm an der Grenze zu Carols Grundstück. Sie hat neben dem hier beschriebenen Buch zahlreiche Kinderbücher verfasst.Über „vier Jahreszeiten“ werden die Briefe geschrieben, beginnen im Sommer und enden im Frühling, als bewusst gesetztes Zeichen eines zyklischen Neubeginns. Sie erzählen nicht nur von Sähen, Pflanzen, Wachsen, Welken und Vergehen, sondern auch über die Kunst, sich von der Natur und dem was sie schenkt überraschen zu lassen. Der Leser wird in ein Gefühl des Staunens über alles was wächst, blüht und vergeht, versetzt. Es ist ein Teilhaben am Zyklus der Natur und des eigenen Lebens. In den Briefen ist Raum für das Leben, die Gedanken und die Erfahrungen der beiden Frauen. Es entsteht eine starke Freundschaft, mit dem Garten als Angelpunkt.Eingestreut in die Briefe stehen Tagebuchauszüge von Carol, die an einer seltenen Form des chronischen Müdigkeitssyndroms leidet. Diese stellen einen starken Kontrast zum Leben in der Natur dar. Trotzdem sind die Briefe unbeschwert und gekennzeichnet von einer grossen Freude am Leben.Heute halten wir nicht das Gartenbuch, das Carol ursprünglich geplant hat, in den Händen, sondern den Briefwechsel zwischen den beiden Frauen, herausgegeben von Dorothy kurz nach dem Tod von Carol, als das andere „Gartenbuch“.Das Buch ist ein Gesamtkunstwerk, eine gelungene Mischung aus Beobachtungen und Gedanken, versehen mit zauberhaften Fotos und Papierkunstwerken. Es ist in einer leichten, flüssigen, aber sehr schönen Sprache geschrieben, macht nachdenklich und bringt eine andere Sichtweite in das „Gärtnern“. Eine Sichtweite, die von Beobachten, Staunen und Gedeihen lassen, geprägt ist. „Vielleicht wird sich in dieser immer schneller werdenden Welt eine Nische für eine langsamere Art des Kommunizierens auftun, für eine Schneckenpost, in der nur die Liebe zum Augenblick zählt, das Wachsen und Werden, das Wort“, so beschreibt Dorothy in einem Brief an Carol ihr Projekt.Es ist ein Buch für Frauen und Männer, für Gärtner und Nicht-Gärtner, für alle, die gerne etwas schönes Lesen und sich jetzt im Frühling von den Formen und Farben der Natur erfreuen lassen können.
Ursi Kupferschmidt und Resi Bolzern, Bibliothek Schwellbrunn
Munro, Alice. Himmel und Hölle : neun Erzählungen. - Frankfurt a.M.: Fischer, 2004.
(ISBN 3-10-048819-9)
„Liebe, für die es keine Verwendung mehr gab, die sich bescheiden musste.“ ist das Fazit aus „Nesseln“, einer der neun Erzählungen von Alice Munro. Eine Kinderliebe, die so selbstverständlich für ewig gedacht war, endet mit einem abrupten Abschied. Als sich die Beiden nach vielen Jahren zufällig wieder begegnen, entwickelt sich die anfängliche Unsicherheit in knisternde Erwartung, die jäh abstirbt, nachdem der Mann erzählt, wie ihn ein furchtbares Unglück die Hölle sehen liess. „Und es setzte wieder ein.
Mit voller Wucht, das Zähneklappern, das Zittern, das Zersplittern der Wörter.“ Diese grauenhafte Hilflosigkeit überkommt Nina in „Trost“ im Bestattungsinstitut, als sie den Wunsch ihres Gatten um sofortige Einäscherung ohne Abschiedsfeier mitzuteilen versucht. Ihr Mann hat sich bei fortgeschrittener unheilbarer Krankheit umgebracht. Er war ein starker, unbeirrbarer Mann gewesen. Seine unumstösslichen Prinzipien haben ihn seine Stelle als Lehrer für Naturwissenschaft in einer bigotten Gemeinde gekostet. Nina, die eine tiefe, komplizierte Liebe zu Lewis verband, verstreut seine Asche zwischen Pflanzen am Strassenrand. Es kommt ihr vor wie „das Hineinwaten in den See für das erste eisige Bad im Juni und sich dann ins Wasser stürzen“.
Die Autorin Alice Munro
ist 1932 in Ontario geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Für ihre zehn Erzählbände ist sie mit mehreren Preisen geehrt worden; für ihren (einzigen) Roman „die Liebe einer Frau“ wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award und dem Giller Prize ausgezeichnet. In Kanada und im angelsächsischen Raum ist sie Bestsellerautorin; ihre Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.
In allen neun Erzählungen schildert Alice Munro einen scheinbar harmlosen Alltag. Es sind stille Geschichten, bis sich durch eine plötzliche Wendung seelische Abgründe auftun. Man gerät unmittelbar in den Sog einer leisen Katastrophe. Munro hat das untrügliche Gespür für zwischenmenschliche Misstöne und Unheilvolles. Sie weiss Orte und Situationen wunderbar und detailgenau – und Gefühle umso beklemmender zu beschreiben. Die Leserin, der Leser ist gefangen von schicksalhaften Beziehungen, erahnten Familiengeheimnissen, von grosser Liebe und seltsamen Sehnsüchten, von momentanem kühnem Ausbrechen aus dem Lebensmuster, von eingestandener und verdrängter Schuld, von beklemmender Angst, von Krankheit und Tod. Man erlebt auch, wie ein einziger lichter Moment zu trösten und ein ganzes düsteres Leben zu erhellen vermag.
Elisabeth Siller, Dorfbibliothek Herisau
Rosenboom, Hilke. Ein Pferd namens Milchmann ; mit Bildern von Anke Kuhl. - Hamburg: Carlsen Verlag, 2005.
(ISBN 3-551-55231-2)
Ein Pferd namens Milchmann erzählt von Hilke Rosenboom, mit Bildern von Anke Kuhl Als Rezensentin für Kinder- und Jugendbücher jedes Jahr die vielen, vielen neuen Werke für die junge Leserschaft zu begutachten macht Spass, doch zu oft wundere ich mich, was den kleinen Lesern und Leserinnen alles zugemutet wird. Wenn man bedenkt, dass Kinder zwischen 7 und 12 Jahren, zu den emsigsten Lesern gehören ist das bestehende Angebot, dass sich übrigens täglich vergrössert, inhaltlich eher wenig beglückend. Umso mehr muss ich von einem Glücksfall berichten denn, ich bin MILCHMANN begegnet. Lese und lese, lache und lache, muss unbedingt meine Familie rufen, lese vor, und plötzlich ist es sehr vergnüglich, trotz Regenwetter! Ein riesiges Pferd im Wohnzimmer, das klingt eher nach „Erfindung“, ist aber keine, zumindest nicht für Herman, dem dieses Tier, eben Milchmann, zugelaufen ist. Höchst realistisch deponiert er sogleich zwölf stinkende Pferdeäpfel auf den Teppich, die unbedingt „nachhaltig“ entfernt werden müssen, bevor die Eltern heimkommen. Denn dass er Milchmann behalten will und seine Eltern da wohl anderer Meinung sein werden, das ist Herman von Anfang an klar, und so bugsiert er das Riesentier erst mal in die Garage, um es auch vor den neugierigen Blicken der Nachbarin zu schützen, die nichts Eiligeres zu tun hat, als die Polizei zu rufen. Das aber ist nur der Anfang einer Kette von absurden Schwierigkeiten, die aus Herman einen gewitzten Problemlöser werden lassen, dem in letzter Minute immer wieder die rettende Idee kommt. Dass er ausgerechnet bei Herrn Gossenstein, dem strengsten und humorlosesten Lehrer der ganzen Schule, auf Verständnis für seine Probleme stösst, hätte er nun wirklich nicht erwartet und erst recht nicht, dass diesem ebenfalls ein Pferd zugelaufen ist und – wie sich bald herausstellt – neun weiteren Kindern der Schule. Alles hängt nun von Herman ab, dem beim Anblick des Pferdetransporters mit der Aufschrift „Equ-Frost“ klar wird, dass finstere Pferdediebe hinter Milchmann und seinen Artgenossen her sind. Die anschliessende wilde Verfolgungsjagd verzichtet auf die freie Prärie, endet dafür via Aufzug auf der Dachterrasse eines Altersheims. Dort fallen sie nicht weiter auf, denn der Altenpfleger redet ohnehin alle Heiminsassen, ob Männer, Frauen, Kinder oder Pferde, munter mit »Mädels« an und serviert ungerührt Eistee für Alle... ...mehr verrate ich nicht, denn ich befürchte, dass sie werte LeserInnen, das Buch dann doch nicht selber lesen und das ist auf jeden Fall zu vermeiden! „Ein Pferd namens Milchmann“ ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Pferd. Vordergründig. Hintergründig arbeitet die Schriftstellerin Hilke Rosenboom aber viele andere Dinge des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenlebens kindgerecht auf. Beispielsweise, dass viele Erwachsene die Träume ihrer eigenen Kindheit einfach vergessen haben. Oder jeder, egal wie alt er ist, eine sinnvolle Aufgabe benötigt, um glücklich zu sein. Hilke Rosenboom schafft es den Finger auf Wunden zu legen, ohne das es den Leser schmerzt. Abschliessend möchte ich Sie auf die ergänzenden, witzigen Illustrationen von Anke Kuhl hinweisen. Ihr unverkennbarer Stil, schon aus „cowboy will nicht reiten“ bekannt, gibt dem turbulenten Krimi mit einer gehörigen Portion Humor die zusätzliche Würze. Also: Gönnen Sie sich einen vergnüglichen Tag, zum Beispiel im Liegestuhl auf der Terrasse und wer weiss, vielleicht wartet „ein Pferd namens Milchmann“ auf Sie!
Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
Rosenboom, Hilke; Kuhl, Anke. Ein Pferd namens Milchmann. – Hamburg: Carlsen Verlag, 2005.
Vanderbes, Jennifer. Osterinsel. - Berlin : Berlin Verlag, 2004.
(ISBN 3-8270-0494-2)
Es gibt sie noch: Geheimnisumwitterte Schauplätze, deren Rätsel die Forscher bis heute nicht klären konnten! Einer davon ist die Osterinsel (Rapa Nui), eine der abgelegensten Inseln der Welt. Sie liegt 1500 Meilen entfernt von der nächsten Landmasse, den Pitcairn-Inseln, im Pazifischen Ozean und gehört politisch zu Chile. Die grossen Fragen, die dieser Ort aufwirft, sind die Rätsel um die riesigen Steinstatuen Moai und die Entzifferung der Rongorongo-Schriftzeichen.
Auf dieser Insel treffen sich die Schicksale zweier Frauen. Die eine, Elsa Pendleton aus Grossbritannien, heiratet einen sehr viel älteren Anthropologen, der ihr und ihrer hübschen, geistig behinderten Schwester damit eine Lebensbasis bietet. Die beiden folgen ihm 1913 auf die Osterinsel, wo er das Geheimnis der Moai-Statuen ergründen soll. Die Pflichtehe missrät und ihr Mann wendet sich letztlich ihrer Schwester zu. Die betrogene Elsa findet ihre Berufung im Erforschen der Rongorongo. Sie lernt die Sprache der Eingeborenen und hofft mit der Entzifferung der Schrift auf den Holztafeln dem Rätsel der Moai auf die Spur zu kommen.
60 Jahre später reist die amerikanische Botanikerin Dr. Greer Faraday zur Untersuchung von Pollen auf die Insel. Ihr Mann hat sie um ihre wissenschaftliche Arbeit betrogen und ist kurz danach gestorben. Mit der Suche nach uralten Pollenformen möchte sie herausfinden, welche Pflanzen das trostlose Eiland früher belebten und was mit ihnen passiert ist. Und sie ist erfolgreich! Sie kann nachweisen, dass auf der Insel einst Palmen wuchsen.
Ein dritter Handlungsstrang bringt das historische Geschehen um die deutsche Ostasienflotte unter dem Kommando von Graf von Spee in die Geschichte ein. Diese Flotte unternahm 1914 einen Abstecher zur Osterinsel, um Vorräte aufzunehmen. Später wurde sie bei den Falkland-Inseln von den Briten gestellt und versenkt. Graf von Spee entpuppt sich als Elsas verlorene grosse Liebe aus ihrer Zeit in Strassburg, wo sie als Privatlehrerin Spees Kinder unterrichtete. Unverhofft treffen die beiden auf der Osterinsel zusammen, wo sie von einer gemeinsamen Zukunft in Europa träumen. Der vielschichtige Roman lässt viele Lesarten zu.
Da sind einerseits die Lebensgeschichten der beiden Frauen, jede zu ihrer Zeit, verknüpft durch ihr Interesse an den Geheimnissen der Insel. Elsa forscht eher zufällig, aus dem Bedürfnis heraus etwas Nützliches zu tun. Greer Faraday, ebenso wie Elsa enttäuscht vom Leben, verkriecht sich vorbehaltlos in ihre wissenschaftliche Arbeit.
Und dieser wissenschaftliche Aspekt bringt andrerseits eine Fülle von Informationen aus verschiedenen Fachgebieten: Entwicklungslehre, Botanik, Geographie und Geschichte. Verwoben mit der Handlung wird die Entstehung der Vulkaninsel und ihre Besiedlung geschildert, die Entdeckungsgeschichte durch James Cook und andere Seefahrer erzählt und die Vegetation der Insel unter die Lupe genommen. Im Mittelpunkt aller Forschung aber stehen die Moai. Wie wurden sie hergestellt? Wie wurden sie transportiert. Wozu dienten sie? Wer hat sie umgestürzt?
Dieser faszinierende Roman bietet eine fesselnde und intelligente Lektüre. Voll Reise- und Abenteuerlust möchte man danach am liebsten die Mysterien von Rapa Nui selbst erkunden. Die Handlung ist zwar frei erfunden, doch haben Forschungsergebnisse und historische Figuren die Autorin zum Inhalt des Romans inspiriert.
Irene Moesch-Gröbli, Gemeindebibliothek Teufen
Grauzonen des Leidens. Hrsg. von Trudi Hofstetter. - Zürich : Seismo Verlag, 2003.
(ISBN 3-908239-96-6)
Zur Autorin
Die Herausgeberin und Autorin Trudi Hofstetter musste sich als Lebensgefährtin ihres leidenden Gatten selbst intensiv mit den Problemen des Lebens mit einer Hirnverletzung auseinander setzen.
Die unaufhaltsam zerstörende Verwandlung ihres Partners in einen pflege –und hilfsbedürftigen Patienten bewog sie, ihre und andere ähnliche Lebenssituationen in Worte zu fassen. Sie möchte mit diesem interessanten Buch helfen, Ängste im Umgang mit unsichtbaren Behinderungen abzubauen. Leben mit unsichtbarer Behinderung
Es kann uns alle treffen, sei es durch einen Hirnschlag, einen Zeckenbiss, einen Unfall, Alzheimer, Epilepsie, einen Hirntumor oder Multiple Sklerose.
Auf eindrückliche Weise beschreiben Direktbetroffene mit einer Hirnverletzung die vielfältigen Probleme, die sich ihnen tagtäglich stellen, vor allem auch dadurch, dass die Behinderung für das Umfeld nicht sichtbar ist. Verlangsamtes Denken, Sprechen und Handeln rufen oftmals unfreundliche Reaktionen bei den Mitmenschen hervor, die die Ursachen für dieses Verhalten nicht kennen. Wird die Behinderung dann als solche erkannt, reagieren die Leute gehemmt und abweisend, was die Behinderten zusätzlich belastet und so oftmals den totalen Rückzug aus dem sozialen Leben fördert.
Von diesen Schwierigkeiten berichten aber auch die Angehörigen, die durch die subtile Betreuung oft an Belastungsgrenzen stossen. Verschiedene Schicksale von Menschen aus unserer Region werden in einer einfühlsamen, gut verständlichen Sprache geschildert. Diverse Fachpersonen ergänzen durch erklärende Beiträge die Krankheits-bilder.
Ein weiterer Schwerpunkt des Buches bildet die Wiedereingliederung der Betroffenen ins soziale Leben und in die Arbeitswelt. Nicht nur das Ereignis selbst führt zu Belastungen. Dazu kommen Auseinandersetzungen und oft auch Kämpfe mit der IV oder mit anderen Versicherungen und Krankenkassen. Nützliche Adressen für Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen vervollständigen das empfehlenswerte Buch.
Bibliotheksteam der Dorfbibliothek Grub AR
Bollmann, Stefan. Frauen, die lesen, sind gefährlich : lesende Frauen in Malerei und Fotografie. – München : Elisabeth Sandmann Verlag, 2005.
(ISBN 3-938045-06-X)
„Erlesene“ Freiheit
Jahrhunderte lang bestand die Aufgabe der Frau im Besorgen des Haushaltes und der Erziehung der Kinder. Die Welt ausserhalb des heimischen Herdes, die Welt des Wissens und der Bildung, war ausschliesslich den Männern vorbehalten.
Als der Frau endlich erlaubt ist zu lesen, was sie möchte, als ihr durch das Lesen die Möglichkeit eröffnet wird, die Enge des häuslichen Lebens zu verlassen, den Gedanken und der Phantasie Flügel wachsen zu lassen, beginnt der Siegeszug der Literatur unter den Frauen. Welcher ja bekanntlich bis heute ungebrochen ist!
Frauen konnten sich nun Wissen aneignen, das ursprünglich nicht für sie bestimmt war. Dies rief natürlich nebst Befürwortern auch etliche Kritiker auf den Plan. Sie sahen in der erwachenden „Lesewut“ der Frauen einen weiteren Verfall von Sitte und Ordnung. Denn lesende Frauen sind denkende, kritische Frauen, welche fest gefügte Normen und bestehende Gesellschaftsformen in Frage stellen. Stefan Bollmann formuliert es so: „ Sie beginnt sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen, das mit dem der Tradition und des Mannes nicht übereinstimmen muss“. Denn, „Das genau haben die Männer noch nie gern an den Frauen gesehen: dass sie zu sehr durchblicken. Darum gab es noch im 18. Jahrhundert in die Einbände mancher Romane Faden und Nadel eingelassen, um die Frauen daran zu erinnern, was ihre eigentliche Bestimmung war: nicht lesen, sondern den Haushalt in Ordnung halten“, schreibt Elke Heidenreich in ihrem Vorwort zum Buch.
Gefährliche Leserinnen
Wo liegt die Gefährlichkeit - und auch die Sinnlichkeit - in den Bildern lesender Frauen? Die Gefährlichkeit wurde angetönt. Die lesende Frau hinterfragt, sie wird selbstbewusst und aufmüpfig. Doch wieso Sinnlichkeit?! Die Faszination, die die Lesende auf den Maler ausübt, ist in vielen Bildern spürbar. Intime Momente der Zwiesprache mit dem Buch werden auf die Leinwand gebannt. Die Frauen werden in allen Situationen des Lesens dargestellt: im Schaukelstuhl inmitten eines blühenden Gartens sitzend, unbekleidet auf dem Bett liegend. Pieter Janssens Elingas Bild „Lesende Frau“ zeigt ein Dienstmädchen, welches seine Pflichten völlig vernachlässigend in einen Heldenroman versunken ist. Eine andere Leserin ist gefesselt von der Lektüre, saugt jedes Wort in sich auf. Eine weitere hat ihr Buch auf den Schoss sinken lassen, der entrückte Blick lässt darauf schliessen, dass sie noch ganz im soeben Gelesenen gefangen ist.
Bildreise durch die Jahrhunderte
Elke Heidenreich und der Autor des Bildbandes, Stefan Bollmann, gehen dieser Faszination der lesenden Frau im ersten Teil des Buches auf sensible Weise nach. Der grosse Teil des Bandes aber gehört ganz den Künstlern und ihren Bildern. Seite für Seite kann sich der Betrachter von grossformatigen Farbabbildungen verzaubern lassen. Der Begleittext geht näher auf das gemalte Bild oder die Fotografie und den Künstler (es sind vorwiegend Männer) ein. Der Bilderbogen spannt sich dabei vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt der gezeigten Motive liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert.
Dieses Buch ist eine wunderbare Hommage an die lesende, träumende, denkende Frau. Und an die Künstler und Künstlerinnen, die von ihr durch die Jahrhunderte bis heute inspiriert wurden und werden.
Annette Bünzli, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
Sick, Bastian. Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod : ein Wegweiser durch den Irrgarten der deutschen Sprache. – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2004. (KiWi, Bd 863.)
(ISBN 3-462-03448-0)
Sick, Bastian. Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2: Neues aus dem Irrgarten der deutschen Sprache. – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005. (KiWi, Bd 900.)
(ISBN 3-462-03606-8)
Ein unmöglicher Titel! Aber Hand aufs Herz: Sind Sie nicht auch mega froh ums Rechtschreibung- und Grammatik-Modul im Word? Wer möchte sich schon bei einem orthographischen Fauxpas ertappen lassen? Allesamt sind wir durch Medien, Politik und Werbung empfänglich für Superlative, Modewörter, Jargon und Anglizismen. Und wenden sie gern und nach Gefühl an! Oder übersetzen mehr oder weniger geschickt aus der Mundart! Der Zwiebelfisch, Bastian Sicks wöchentliche Kolumne im Spiegel online, nimmt die "schaurigen, traurigen, unsäglichen, unerträglichen, abgehobenen und verschrobenen Erscheinungen" unter die Lupe, aufs Korn. Dieses Taschenbuch ist eine Auswahl aus seiner beliebten Kolumne.
Unterhaltung kontra Akribie
"Dieses Buch wird Ihnen als Reiseführer auf einem abenteuerlichen Rundgang durch die Wildnis der deutschen Sprache dienen", verspricht Bastian Sick. Dass ausgerechnet das Nachrichtenmagazin Spiegel Sprachpflege treibt, dürfte besonders den Deutschprofi Wolf Schneider wundern. Kein grimmiger Erbsenzähler kämpft in schulmeisterlichem Ton für eine korrekte Anwendung der deutschen Sprache. Anders als sein Vorgänger verkneift sich Bastian Sick bei aller Kompetenz den erhobenen Zeigefinger und liefert kein langweiliges Lehrbuch, sondern einen pfiffigen, amüsanten Ratgeber. Im spöttisch lockeren Parlando ächtet der Autor kleinere und grössere Sprachvergehen. Die "Stolpersteine" sind geschickt in unterhaltsame Geschichten verpackt und lassen sich auch portionenweise geniessen.
Schmunzelnd lernen
Ein Vorwort und 49 Fettnäpfchen hält der Kolumnist bereit. "Wir bitten um Ihr Verständnis" wehrt abgedroschenen Phrasen, "Brutalstmöglichst gesteigerter Superlativissimus" der Hochstapelei. "Bratskartoffeln und Spiegelsei" hilft bei der korrekten Anwendung des Fugen-S. "Einfach Haar sträubend" und "In Massen geniessen" versöhnen uns mit der Rechtschreibereform. "Die traurige Geschichte von drei englischen Ladys", "Stop making sense" und "Leichensäcke aus dem Supermarkt" testen unser Neudeutsch. Was verbirgt sich wohl hinter "Im Bann des Silbenbarbaren", "Liebe Gläubiginnen und Gläubige", "Licht am Ende des sturmverhangenen Horizonts"? Zum Schluss die gute Nachricht. Es gibt bereits eine Fortsetzung. Sogar mit Test! Und für Süchtige jede Woche ein neues Zwiebelfisch-Häppchen im Spiegel online : http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch
Doris Ueberschlag, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
© Bibliotheken Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden