Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Guénard, Tim. Boxerkind : überleben in einer Welt ohne Liebe. - München : Pattloch Verlag, 2007.
(ISBN 978-3-629-02170-0)
Sie küsst mich nicht. Sie sagt nicht "auf Wiedersehen". Kein einziges Wort. Die Frau entfernt sich. Sie trägt weisse Stiefel... ich bin drei Jahre alt, und meine Mutter hat mich an einen Strommast neben dieser einsamen Landstrasse gebunden, die nirgendwohin führt."
So beginnt die Biografie von Tim Guénard, die erschütternde Geschichte eines Menschen, der in einer Welt ohne Liebe aufgewachsen ist. Dabei hungerte er geradezu nach Zuneigung und Liebe. Seine Mutter ist aus seinem Leben verschwunden, sein Vater, ein Alkoholiker und brutaler Schläger, prügelt den gerade fünfjährigen Tim beinahe zu Tode. Mehr als zwei Jahren liegt er im Spital. Es folgen Aufenthalte in der Psychiatrie, bei Pflegefamilien und Besserungsanstalten. Vergebens wartet Tom auf das nette Wort, das den Tag aufzuhellen vermag. Tom beginnt sich zu wehren, wenn er Ungerechtigkeiten über sich ergeben lassen muss und schlägt bei jeder Gelegenheit zu. Fortan gilt er als schwer erziehbar.
Tom träumt von Flucht, Abenteuern und Entkommen aus den Anstalten, Paris sei eine riesige Stadt, in der man sich gut verstecken könne, hört er einen älteren Leidensgenossen reden. In Paris angekommen, gleitet er rasch in die Kriminalität ab, er prostituiert sich. Eine Verbrecherkarriere scheint vorprogrammiert. Da beginnt sich das Blatt zu wenden: Eine Richterin sieht erst den Menschen an, dann die Akte und schenkt Tim Vertrauen. Er darf den Beruf des Bildhauers und Steinmetzen lernen. Seine Gewalttätigkeit versucht er mit Boxen zu kanalisieren. Durch seine Boxerkarriere findet er Freunde, Anerkennung und Respekt.
Doch hinter der Fassade des vor Gesundheit und Stärke strotzenden Typen ist das Herz traurig. Die Emotionen beim Boxen und die Schmeicheleien befriedigen nicht. Er stellt Vergleiche an mit seinem Freund Jean-Marie. Dieser lebt mit Behinderten zusammen, für Tim unvorstellbar. Dieser sagt, was er glaubt, und lebt, was er sagt. Das verunsichert Tim und macht ihn neugierig. Was hat Jean-Marie, was ihn so glücklich und zufrieden macht? Das verrate ich jetzt nicht.
Mich hat das in einer ganz einfachen Sprache geschriebene Buch sehr beeindruckt. Es macht Mut. Mit einer verkorksten Kindheit muss nicht das ganze Leben schief laufen. Wie oft hört man, dass Kinder die geschlagen werden, später auch ihre Kinder wieder schlagen, das sei genetisch vorbestimmt. Guénard schreibt ganz richtig: Der Erwachsene besitzt die Freiheit, sein Schicksal zum Guten oder Schlechten zu beeinflussen. Um zu gesunden, brauchen verletzte Menschen oft viel Zeit und Geduld von Seiten der Mitmenschen. Lange kann ein Verletzter nämlich nicht vertrauen oder glauben, dass es Leute gibt, die einem trotz der Narben aus der Vergangenheit lieben.
Bei einem Ton, einem Wort, einem Geruch, einem Geräusch, einer Geste, einem flüchtig erblickten Ort kommt die Vergangenheit plötzlich hoch. Oftmals genügt ein Nichts, um die Erinnerungen zu wecken. Es schmerzt lange und braucht immer wieder die Gnade des Vergebens. Den Menschen vergeben zu können, die einem Leid angetan haben. Vergeben ist aber nicht vergessen. Vielmehr ist es ein Akzeptieren, in Frieden mit der Verletzung zu leben. Durch die Liebe können langsam alle Verletzungen heilen. Guénard hat das erleben dürfen.
Guénard lebt heute mit seiner Frau und vier Kindern in der Nähe von Lourdes. Er ist Bienenzüchter und sein Haus ist immer offen für Jugendliche, die wie er früher unter einem besonderen Mangel an Liebe zu leiden haben. Überall erzählt er aus seinem Leben und versucht damit gegen die besonders unter Jugendlichen grassierenden Formen von Gewalt anzukämpfen.
Ein lesenswertes Buch, erhältlich im Buchhandel und ausleihbar in Ihrer Bibliothek.
Beatrice Fuchs, Volksbibliothek Appenzell
Eichenberger, Ursula. Aus dem Lot : Menschen in der Psychiatrie. - Zürich : Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007.
(ISBN: 978-3-03823-247-6)
Seit jeher stossen Menschen mit einer psychischen Erkrankung auf Zurückhaltung seitens der Gesellschaft. Dieser Umstand ist auf zahlreiche Gründe zurückzuführen. Die konstante Tabuisierung – um nur einen dieser Gründe zu nennen – ist ein fruchtbarer Boden für Vorurteile.
Um der ablehnenden Haltung gegenüber den Betroffenen entgegenzuwirken, beschloss Ursula Eichenberger mit Hilfe von Markus Binswanger und 12 Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Klinik Littenheid bei Wil Aufklärungsarbeit in Form eines Buches zu leisten.
Ziel der Autoren ist es, der breiten Bevölkerung eine ansprechende und lebensnahe Einführung in die Thematik der Psychiatrie zu liefern.
Durch die Verbindung von Erfahrungsberichten der Patientinnen und Patienten und Betroffenen mit den fachlichen Ausführungen von Markus Binswanger wurde eine mehrschichtige Betrachtungsweise erreicht.
Im Hauptteil des Buches berichten die 12 Patientinnen und Patienten aus ihrer Vergangenheit, über den Verlauf ihrer Erkrankungen und die damit verbundenen Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Die Krankheitsbilder der porträtierten Personen reichen von Demenz über Burn-Out und Depression bis hin zu Selbstverletzung und Posttraumatischen Belastungsstörungen. In den meisten Fällen aber liegen komplexe Kombinationen aus mehreren Erkrankungen vor.
Die Porträts werden jeweils durch einen Blick des Patienten in die Zukunft vervollständigt. Die Betroffenen formulieren Vorstellungen und Vorsätze für das Leben nach dem Klinikaufenthalt. Leider bleibt unklar, ob und wie der Schritt zurück in den Alltag gelingen wird.
Kurzberichte von Verwandten oder Bekannten werfen ein zusätzliches Licht auf die Person und deren Lebenssituation.
Die einzelnen Charaktere nehmen so Gestalt an und wecken im Leser Verständnis und Interesse.
An Stelle einer fallbezogenen ärztlichen Beurteilung findet sich im zweiten Teil des Buches eine fachliche Zusammenfassung der häufigsten psychischen Erkrankungen. Gegliedert nach den Aspekten Definition, Häufigkeit, Ursachen, Symptome, Therapie und Heilung/Verlauf wird dem Laien eine gut verständliche Übersicht zu den jeweiligen psychischen Krankheiten vermittelt.
Nach Abschluss der Lektüre wird vor allem eines klar: psychische Erkrankungen verschiedenster Art sind allgegenwärtig, auch wenn sie oft nicht oder erst sehr spät erkannt werden. Die meisten Menschen werden im Laufe ihres Lebens mit psychischen Krankheiten direkt oder indirekt konfrontiert. Anlass genug, sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Dieses Buch ermöglicht eine ehrliche Annäherung.
Leandra Naef, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden
Ortheil, Hanns-Josef. Das Verlangen nach Liebe. - München : Luchterhand Literaturverlag, 2007.
(ISBN 978-3-630-87263-6)
Zürich im Herbst
Johannes hat sein Hotel verlassen. Inmitten der an seinem Seeufer entlang laufenden Kastanienallee blieb er stehen und genoss den Anblick: Die sanften, auf und ab schwingenden, schon leicht ins Dunkle gefärbten Hügel des gegenüberliegenden Ufers, das zu den Alpenketten der Ferne ausholende Graublau der stillen Wasserfläche, den Abdruck der auf ihr herumgeisternden Sonnenstreifen, die sich wie matte, breite Pinselstriche quer über diesen diffusen Grund legten. Gleich danach erblickte er sie ruhend auf einer Parkbank, den Kopf gestützt auf ihrem braunen Lederrucksack, den sie offenbar nach all den Jahren immer noch hat…Judith!
18 Jahre lang haben sich die Kunsthistorikerin und der erfolgreiche Konzertpianist nicht mehr gesehen. Die unerwartete Begegnung versetzt sie zurück in die Zeit ihrer grossen Liebe, in der sie während 8 Jahren ein junges und unzertrennliches Paar waren. Gefühlvoll und atmosphärisch gehen die beiden aufeinander zu. Fast scheint es, als hätten sie sich nur kurz für ein paar Tage getrennt. Ihre Treffen werden zu immer gezielter angelegten, oft festlichen Arrangements, bei denen der Ort, die Umgebung sowie die Getränke und Speisen eine grosse Rolle spielen. Unmerklich geraten sie dabei immer tiefer hinein in die erneut aufbrechende Magie einer starken Anziehung. In Erinnerungen schwelgend diskutieren sie auch ihre neuesten künstlerischen Projekte. Die mittlerweile habilitierte Kunsthistorikerin bereitet eine Ausstellung vor, Johannes gibt ein Konzert in der Tonhalle. Das Konzept von Judiths Ausstellung „Ländereien der Malerei“ sieht vor, dass von berühmten Gemälden mit unterschiedlichem Fokus mehr oder minder grosse Ausschnitte fotografiert werden. Das Bild wird sozusagen in Segmente zerlegt. Diese Fotografien werden dann gemeinsam mit dem eigentlichen Gemälde gezeigt; sie umrahmen das Bild. Dies ergibt eine Symbiose und schafft verbundene Komplexität.
Für die musikalisch, literarisch und kunstgeschichtlich Interessierten ist dieses Buch ein wahrer Segen und gut für die Seele. Obendrein läuft einem während der Lektüre ständig das Wasser im Mund zusammen, weil immer wieder so phantastisch gegessen und getrunken wird. Sei es nun nobel oder bodenständige Schweizer Hausmannskost. Das Schönste ist, dass es die beschriebenen Restaurants und Kneipen allesamt gibt, ebenso auch die Museen, Gassen, Plätze und natürlich den See.
Mit dieser Liebeserklärung an Zürich verwebt der Autor in seinem Roman Literatur, Kunst und Musik zu einem vielschichtigen Klangteppich. Ortheil, der selbst Pianist war und Kunstgeschichte, Musikwissenschaften, Germanistik und Philosophie studierte, weiss die Empfindungen einer sensiblen Künstlerseele fast körperlich spürbar zu machen. Die Worte und Sätze durchziehen diesen Roman wie ein virtuoses Klavierspiel.
„Das Verlangen nach Liebe“ ist ein visuell akustisches Literaturerlebnis, ein kluges, gefühlvolles, betörendes und emphatisches Buch. Ein Buch, das Freude im Innehalten erzeugt.
Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen
Diome, Fatou. Der Bauch des Ozeans : Roman ; aus dem Franz. von Brigitte Grosse. - Zürich : Diogenes Verlag, 2006. (Diogenes Taschenbücher ; 23521)
(ISBN 978-3-257-23521-0)
Fatou Diome, geboren 1968 auf einer kleinen Insel im Atlantik, an der Küste Senegals, lebt seit 1994 in Strassburg. Sie studierte Literaturwissenschaften. Mit ihrem Erstlingswerk, „Der Bauch des Ozeans,“ erschienen 2003 im Diogenes Verlag, hatte sie international grossen Erfolg und erhielt den deutschen Literaturpreis.
Fatou Diome erzählt in ihrem Buch, in einer fliessenden, poetischen Sprache Geschichten aus Niodor, ihrer Heimat, Geschichten aus Frankreich, Geschichten von Auswanderung, von Träumen, von Armut und Fussball. In ihrem Buch verwebt sie diese Geschichten zu einem autobiografischen Roman, in dessen Mittelpunkt ihr kleiner Bruder steht.
Im kleinen Inseldorf spielt sich das Leben seit Jahrhunderten gleich ab. Die Frauen bemühen sich Tag und Nacht um das tägliche Couscous, Kleidung und Krankenpflege für die zahlreichen Familienmitglieder. Die Männer fangen frühmorgens ihren Fisch und sitzen den ganzen Tag unter dem Palaverbaum.
Hier versammeln sich die Menschen vor dem einzigen Fernseher, eines heimgekehrten Auswanderers, und schauen sich die Fussballspiele der WM an. In den Werbespots gelangt das Paradies Europa nach Afrika. Eis: eine Traumspeise, die man jenseits des Ozeans bekommt, in jenem fernen Paradies, in dem der kleine Dicke aus der Werbung klugerweise gleich zur Welt kam.
In der Freizeit gibt es für diese Kinder nur Fussball. Echte Bälle sind selten. Doch findig, wie alle Kinder der Dritten Welt, basteln sich die Jungen welche aus Plastiktüten, die sie mit Lappen und Schwämmen ausstopfen. Fortgehen ist oft der einzige Gedanke, der die jungen Inselbewohner beherrscht. Auch Madické, der kleine Bruder, will nur eines: nach Frankreich zu seiner Schwester und ein Fussballstar werden. Doch die Realität für Einwanderer sieht nicht so rosig aus. In Europa muss für alles bezahlt werden. Wasser, Strom, Telefon, Wohnung. Das ist in der Heimat alles umsonst oder gibt es nicht. Jeder hat seine Hütte und jeden Tag frischen Fisch aus dem Meer. In Afrika haben die Menschen nicht viel, aber doch das nötigste. In Europa liegt das Heimweh nach Sonne, Wärme und Gemeinschaft wie ein grosser Stein im Magen und lässt kaum Platz für das ersehnte Fastfood.
Fatou Diome greift auch heikle Themen auf, wie etwa die Polygamie. In einer Gesellschaft, in der die Frau kaum Rechte hat und in der die Männlichkeit noch immer an der Schar der Kinder gemessen wird. Analphabetismus ist weit verbreitet und die Dorfbewohner zeigen kein Verständnis für den Plan der Regierung die allgemeine Schulpflicht einführen zu wollen.
Das wunderbare an diesem Buch ist, dass Fatou Diome immer wieder zwei Wahrheiten, mehrere Sichtweisen zeigt. So schreibt sie z. B. Gebildete Afrikaner wissen, dass auch die Armut inzwischen globalisiert wurde. Es gibt Elende in Frankreich und in Dakar. Aber die Leute ohne Schulbildung träumen immer noch von einem europäischen Paradies. Aber auch über ihre Grossmutter Diese Frau die nicht lesen und schreiben kann hat mir alles wichtige, das ich zum Leben brauche beigebracht.
Das Buch ist eine wunderbare Lektüre zum Thema Emigration. Spannend, poetisch, witzig und vorurteilslos geschrieben. Fatou Diome sagt von sich selber: „Emigranten sagen oft, sie sitzen zwischen zwei Stühlen. Ich sehe das nicht so. Ich habe einen Stuhl, der aus zwei Stühlen besteht – er ist also sehr gross“.
Ursi Kupferschmidt, Bibliothek Schwellbrunn
Baldursdóttir, Kristin Marja. Die Eismalerin. - Frankfurt a.M. : W. Krüger, 2006.
(ISBN 978-3-8105-0256-8)
Island 1917 – Für die junge Witwe Steinunn Olafsdóttir ist sehr früh klar, dass ihre sechs Kinder alle eine Ausbildung erhalten sollen, auch wenn das für die Familie ein äusserst karges Leben bedeutet. Steinunn spart wo sie nur kann und eines Tages reist sie mit Söhnen und Töchtern per Schiff nach Akureyri im Norden. Dort gibt es Schulen und eine Fischfabrik, wo Frauen Arbeit finden können. Zuerst sollen die beiden älteren Jungen in die Schule gehen und die Schwestern werden für sie mitverdienen. Nach und nach werden dann auch die Töchter ihre Ausbildung erhalten.
Schon früh ist die Jüngste, Karitas durch ihr Zeichentalent aufgefallen. Weil sie noch zu jung ist, um beim Einsalzen des Herings mitzuhelfen, muss sie die Hausarbeit übernehmen. In dieser Zeit trifft sie in Akureyri Eugenia, die durch Zufall die künstlerische Begabung der jungen Frau entdeckt. Diese Mentorin ermöglicht Karitas ein Kunststudium in Kopenhagen. Die junge Künstlerin muss in dieser Zeit jedoch selber für Kost und Logis aufkommen und abends schwer und lange arbeiten. Als sie nach fünf Jahren zurückkehrt, ist das Leben auf der Insel immer noch sehr hart und wie alle Frauen arbeitet auch Karitas in der Fischfabrik mit. Bald ist die Rede von einer ersten Ausstellung, die ihre Gönnerin Eugenia für sie organisieren will. Eines Tages jedoch trifft die junge Frau den grossen, gutaussehenden Fischer Sigmar, der von einem eigenen Boot, ja sogar von einer Fangflotte träumt. Karitas kann seinem Charme nicht widerstehen, wird schwanger und reist mit ihm in die Ostfjorde, wo er ein Haus besitzt. Das Haus entpuppt sich allerdings als einfache, abgelegene Kate (moosbedeckte Hütte) und Sigmar fährt schon bald wieder zur See. Dank der grossartigen nachbarlichen Hilfe schafft es Karitas, das Kind auf die Welt zu bringen und den harten Alltag in dieser rauhen und einsamen Gegend zu meistern. Obwohl sie mit ihrem Talent und ihrer eigenen Art als Exotin gilt, lacht niemand über sie, im Gegenteil, sie erhält von allen uneingeschränkte Unterstützung und beginnt, wieder zu malen.
Sigmar verschwindet eines Tages, um seinen Traum von einer Fangflotte zu verwirklichen. Wird er zurückkommen und wie wird die Zukunft von Karitas aussehen? Wird sie sich als Künstlerin verwirklichen können? Eines Tages wird sie sich entscheiden müssen.
K.M. Baldursdóttir hat einen gut recherchierten, sehr flüssig zu lesenden Roman geschrieben über eine junge Künstlerin und über den Kampf der Frauen um eigene Rechte und eigene Existenz im Island von 1917. Sie zeigt auch, wie damals unter sehr schlechten Bedingungen Menschen versucht haben in ein besseres, selbstbestimmtes Leben aufzubrechen. Gleichzeitig zeichnet dieser Roman ein eindrückliches sozialgeschichtliches Bild dieser Zeit. Die Schilderungen der nachbarlichen Hilfe, auf welche Karitas immer wieder zählen kann, gehören zu den stärksten Szenen des Buches. Eine Besonderheit dieses Romans sind die ausgezeichneten Bildbeschreibungen am Anfang eines jeden Kapitels; man fühlt sich als Leser direkt in diese Szenen des isländischen Alltags hineinversetzt.
Kristin Marja Baldursdóttir lebt in Reykjavik. Die Autorin hat schon einige Romane veröffentlicht und ist in Island als Journalistin und Schriftstellerin sehr bekannt. Für den vorliegenden Roman ist sie für den Nordic Council Literary Price 2005 nominiert worden.
Margrith Walti, Gemeindebibliothek Teufen
Murgia, Michela. Accabadora. - Berlin : Verlag Klaus Wagenbach, 2010.
(ISBN 978-3-8031-3226-0)
Michela Murgia beschreibt in ihrem Debutroman eine eindrückliche Geschichte über eine „Accabadora“ und ein „Kind des Herzens“.
Unter einer „Accabadora“ versteht man in Sardinien eine „Beenderin“, eine Sterbehilfe leistende Frau, die aber ebenso als Geburtshelferin fungiert. Ob es sich dabei eher um eine Legende handelt oder ob sie so tatsächlich existiert haben, darüber sind sich die Anthropologen nicht einig. Ein „fillus de anima“ ist ein Kind des Herzens, der Seele. So nennt man Kinder die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. Eine in Sardiniern seit langem praktizierte Form der Adoption, die mit dem Einverständnis der betroffenen Familien, ganz ohne behördliche Formalitäten geschieht, denn sie beruht allein auf Zuneigung. Eine kinderreiche Familie gibt eines ihrer Kinder an ein kinderloses Paar, dafür wird sich das Kind im Alter um sie kümmern. Es bleibt aber auch in Kontakt zu seiner ursprünglichen Familie.
Die Handlung dieses herb poetischen Romans gibt Einblick in die Geschichte eines normalen sardischen Dorfes der 1950er Jahre. Das Leben der Bewohner ist geprägt von der entbehrungsreichen Bauern- und Hirtenkultur; eigentümliche, archaische Traditionen, gewachsen über Jahrhunderte, bestimmen die Gemeinschaft. Zentrale Themen wie Geburt und Tod, begleitet von Freud und Leid, bestimmen in dieser einfachen Welt den Alltag, ebenso wie die religiösen oder heidnischen Rituale, die gepaart mit einer praktischen Einstellung zum Hier und Jetzt das Überleben erleichtern. Hauptfiguren sind zwei ungleichen Frauen; Die alte, verwitwete Schneiderin Bonaria Urrai, eine Accabadora, und ihr „Kind des Herzens“, die sechsjährige Maria Listru. Die ersten Kapitel beschreiben, wie sich die beiden Protagonistinnen einander annähern, wie sie sich kennen-, achten und akzeptieren lernen. Die Junge beobachtet aufmerksam und kritisch, was um sie herum vorgeht. Dabei bemerkt sie, dass die Alte Geheimnisse zu verbergen hat, dass sie mitunter nachts, wenn Maria schlafen soll, Besuch erhält und dann das Haus verlässt. Dem Leser erschliesst sich - dank des allwissenden Erzählers - was Bonarias Besonderheit ist. Spannend ist es, mitzuerleben, wie Maria dies Jahre später erfährt und wie sie darauf reagiert. Es kommt zum Konflikt zwischen Maria und Bonaria, Das Mädchen verbringt daraufhin einige Zeit auf dem Festland in Turin, möchte ein neues Leben beginnen, doch die Vergangenheit holt sie ein mit der Nachricht, dass Bonaria einen Schlaganfall erlitten hat und nun auf ihre Hilfe angewiesen ist.
Weitere Handlungsstränge beschreiben Beziehungen zwischen Frauen und Männern, auch zwischen Maria und dem Jungen Andria, zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Nachbarn. Man spürt den Ernst des Lebens in der strengen Dorfgemeinschaft.
Michela Murgia fasziniert mit ihrer kargen, harten doch vitalen Sprache. Die Schilderung der Geschichte ihrer ungewöhnlichen Heldin Maria verbindet Wiederholungen aus verschiedenen Erzähl-Perspektiven mit Elementen aus Legenden, geschrieben in einer sehr bildhaften Sprache. Ein Lesegenuss, der einem zum Nachdenken über das einfache Leben und das Sterben, auch das Selbstbestimmte, anregt, und uns Einblick in ein weitgehend unbekanntes, nicht touristisches Sardinien vermittelt.
Franziska Naef, Bibliothek Speicher Trogen
Arapi, Lindita. Schlüsselmädchen ; aus dem Albanischen von Joachim Röhm. - Berlin : Dittrich Verlag, 2012.
(ISBN 978-3-937717-85-2)
Albanien zur Zeit des Kommunismus. Die kleine Stadt D. gilt als sozialistische Vorzeigegemeinde, die ihre Pflichten sehr ernst nimmt. Bespitzelungen und Verurteilungen gehören zur Tagesordnung. Begierig lauscht die zehnjährige Lodja Lemani von ihrem Küchenfenster aus den Frauen, die allabendlich vor ihrem Elternhaus zusammenkommen und tratschen. Nur Lodjas Mutter bleibt zu Hause, sie ist eine Ausgestossene. Auch Lodja darf nicht nach draussen. Schon lange fragt sie sich, weshalb das so ist. Bis ihre Mutter sie darüber aufklärt, dass ihre Familie eine "finstere" Biografie habe. Lodjas Grossvater, ein Grossgrundbesitzer, widersetzte sich dem Kommunismus und wurde gehenkt. Seitdem gelten die Lemanis als Verräter und sind in der kleinen Stadt nur geduldet.
Als Lodja zu begreifen beginnt, erscheint ihr jede Nacht das Gespenst eines Unbekannten. Es sitzt an ihrem Bettrand und sein kalter Hauch erfüllt Lodja mit Grauen.
Jahre später - Lodja studiert in Belgien - beschliesst sie, in ihre Heimat zu reisen und herauszufinden, was ihr den Seelenfrieden raubt. Diese Reise umspannt die Zeit, als Albanien Widerstand gegen die faschistische Besetzung leistete, die kommunistischen Jahre und die Gegenwart. Drei Generationen von Frauen stehen dabei im Vordergrund: Lodja, ihre Mutter Dritta und ihre Grossmutter Fatime. Letztere nahm ein schreckliches Geheimnis mit ins Grab, ein Geheimnis, das der Toten keine Ruhe gönnt und sie als Gespenst herumgeistern lässt - so zumindest schildern es die Verwandten Lodjas.
Arapi - selbst in Albanien geboren - schildert uns eine Kultur, in der die Sippe mehr zählt als das Individuum, und die Frauen der Willkür der Männer ausgeliefert sind. Aber vor allem ist es eine Kultur, in der das Schweigen und Verdrängen vorherrschen. So, wie Lodja sich ihrer Geschichte stellt, sollten es laut Arapi die Albaner tun. Denn nur dem, der sich erinnert und verzeiht, steht die Zukunft offen. Arapi - in Albanien Schriftstellerin des Jahres 2011 - erzählt davon in ihrem Roman in eindrücklicher Weise.
Cornelia Schmidli, Bibliothek Schwellbrunn
Taniguchi, Jiro. Vertraute Fremde. - Hamburg: Carlsen, 2007.
(ISBN 978-3-551-77779-9)
Vor drei Jahren habe ich an dieser Stelle L´homme qui marche des Japaners Taniguchi vorgestellt. Damals entdeckten die Franzosen das hochkarätige Werk dieses meisterhaften Autors und Zeichners. Bereits mit zahlreichen japanischen Preisen ausgezeichnet erhielt er am renommierten Festival von Angoulême den Preis für das beste Szenario. Das prämierte Werk hiess Quartier lointain.
Mit einiger Verspätung geht der Stern von Taniguchi nun auch in deutschsprachigen Ländern auf. Quartier lointain wurde unter dem Titel Vertraute Fremde ins Deutsche übersetzt und erhielt sogleich den Preis für den besten Comic des Jahres 2007.
Es ist kein Zufall, dass gerade Taniguchi in Europa so grossen Anklang findet. Zeichnerisch wirkt er wenig japanisch. Seit er nämlich Mitte der 70-er Jahre den frankobelgischen Comic entdeckt hat, ist sein Zeichenstil sehr europäisch geworden. Der Strich ist klar und präzise und erinnert an die Ligne claire von Hergé, dem Schöpfer von Tim und Struppi. Wie bei diesem agieren seine Figuren vor einem detaillierten Hintergrund. Zusammen mit einem anderen Vertreter Ligne claire, dem Franzosen Moebius, hat er das mehrbändige Werk Icaro herausgegeben.
Doch wovon erzählt Taniguchi in Vertraute Fremde? Wie all seine Werke hat auch dieser Manga seinen Ursprung im realen Leben. Der Hauptdarsteller steht in der Mitte seines eher unspektakulären Lebens, als er eines Tages versehentlich in einem Zug sitzt, der in seine Heimat fährt. Er steigt in seiner Geburtsstadt aus und macht sich auf einen Spaziergang durch das Viertel seiner Jugend, wo er auch das Grab seiner Mutter besucht. Dort fällt er in Ohnmacht – und erwacht wieder als vierzehnjähriger Junge. Mit dem Bewusstsein des Erwachsenen erlebt er nochmals seine Jugend im aufstrebenden Japan der Sechzigerjahre. Er beobachtet die gesellschaftlichen und familiären Veränderungen jener Zeit und lässt den Leser teilhaben an seinen Träumen und ängsten. Die Möglichkeit, Einfluss auf die Zukunft zu nehmen, flösst ihm zwar Respekt ein, aber trotzdem entschliesst er sich, einige Begebenheiten aus seiner Lebensgeschichte ein bisschen zu manipulieren. So verblüfft er seine Mitmenschen mit hervorragenden Leistungen in Englisch, Mathematik und Sport. Auch macht er sich Informationen aus der Zukunft zu eigen, um vor allem dem weiblichen Geschlecht zu imponieren. So interessiert sich plötzlich sogar die attraktive Tomoko für ihn. Grösste überwindung kostet ihn dann aber der Versuch, die schmerzlichste Tragödie seines Lebens, nämlich das spurlose Verschwinden seines Vaters, zu verhindern. Er verwirklicht damit einen Traum, den viele Menschen träumen: Er kann die Probleme seiner Jugend mit dem Erfahrungshintergrund des Erwachsenen angehen und hoffen, diese erfolgreicher zu meistern als damals. Ob ihm dies vollumfänglich gelingt, möchte ich nicht verraten. Vertraute Fremde trägt mit dazu bei, den schlechten Ruf der japanischen Comics zu korrigieren. Einige Autoren aus dem Land der aufgehenden Sonne gehören nämlich weltweit zu den besten ihrer Gilde.
Kurt Sallmann, Appenzeller Bibliobahn
Stap, Sophie van der. Heute bin ich blond : das Mädchen mit den neun Perücken ; aus dem Niederländ. von Barbara Heller. - München : Droemer, 2008.
(ISBN 978-3-426-27443-9)
Eine andere Frisur, ein anderer Mensch? Als man bei Sophie van der Stap mit einundzwanzig Jahren Krebs diagnostiziert, möchte sie sich am liebsten verwandeln. Wie Sophie mit ihrer Krankheit fertig wird, ist einzigartig: Nie zuvor hat jemand den Kampf gegen den Krebs derart freimütig, aber auch mit so viel Lebendigkeit beschrieben. Besser kann man die eigene Verletzlichkeit nicht zeigen.
Unheilbar krank und trotzdem das Leben geniessen? Für Sophie ist die Antwort klar: «Ich will zeigen, dass ein Leben mit Krebs möglich ist, dass ich nach wie vor lachen und Dinge geniessen kann, zum Beispiel ausgehen, shoppen, flirten. Dass es sogar unheimlich Spass machen kann, Perücken zu tragen.» Sophie geniesst es, eine Frau zu sein. Eine Frau mit vielen Gesichtern, die intensiv fühlt, intensiv lebt und die einen neuen besten Freund gefunden hat - sich selbst: «Neun Perücken, neun Namen, neunmal so viele Freundinnen und Verehrer, neun Personen, und hinter jeder versteckt sich ein anderes Stück Sophie.» Und sie lernt, dass nicht nur diese neun verschiedenen Persönlichkeiten alle Teil ihres Lebens sind, sondern auch der Krebs. So kämpft sie sich tapfer durch vierundfünfzig Wochen Chemotherapie. Noch nicht geheilt, fängt sie an ihre Geschichte aufzuschreiben und geht auf die Suche nach einem Verlag. So hofft sie vielen betroffenen Frauen einen Weg zu zeigen und ihnen Mut zu machen.
Sylvia Huber, Bibliothek Walzenhausen
Doder, Joshua. Ein Hund namens Grk ; aus dem Englischen von Franziska Gehm, mit Vignetten von Daniel Napp. - Weinheim : Beltz & Gelberg Verlag, 2008.
(ISBN 978-3-407-79930-2)
Timothy Malt lebt als Einzelkind mit seinen Eltern in einem grossen Haus in London. Eines Tages, Tim will gerade, gespielt selbstverständlich, den besten Weg durch den ebenfalls gespielten Dschungel finden, da stösst er, die Arme wild hin und her schlenkernd, auf einen komischen jaulenden Knäuel, der sich, oh Schreck, als Hund entpuppt. Grk eben. Der gehört eigentlich zwei Diplomatenkindern aus Stanislavia, die aber mit ihren Eltern im Gefängnis schmachten, weil Colonel Zinfandel die Macht übernommen hat; in London zurückgeblieben ist eben Grk. Tims Eltern haben wenig für Hunde übrig, und so beschliesst Tim, Grk nach Stanislavia zu bringen. Er hat natürlich keine Ahnung, dass Max und Natasha, die eigentlichen Besitzer, im Gefängnis schmachten, aber nachdem er Zinfandel und den sinistren Oberst Raki kennen gelernt hat, beschliesst er, die beiden Kinder aus dem Gefängnis zu befreien. Nach zahlreichen Abenteuern gelingt ihm das auch, aber wie nun das Land verlassen? Ohne Zweifel, dieses Buch liest sich wie ein packender Agententhriller im Kleinformat - 007 im Dienste ihrer Majestät der Königin lässt grüssen! Und wie dieser kennt Tim keine Gefahren, um sein Ziel zu erreichen. Als 12-jähriger Junge lernt er eine Erwachsenenwelt kennen, in der es einen machthungrigen Diktator, einen brutalen und grausamen Major, einen opportunen Botschafter und sensationsgierige Journalisten gibt. Mutig trifft er in gefährlichen Situationen Entscheidungen, die sich mancher Erwachsener kaum trauen würde. Es ist eine abenteuerliche Geschichte, die Doder erzählt. In ihr verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Sie stimmt den Leser einerseits traurig, andererseits aber froh und lustig und sie lässt ihn auf ein gut ausgehendes Ende hoffen. Ein «allwissender» Erzähler, den der Autor zwischen sich und den Leser schaltet, schildert spannend, mit viel Witz und Ironie die sich überschlagenden Ereignisse. Dabei greift er kommentierend ins Geschehen ein, vor allem dann, wenn er Dinge aus der «Erwachsenenwelt» kindgerecht erklärt. Leicht verständlich skizziert er die Charaktere seiner Figuren und offenbart deren Gefühls- und Gedankenwelt, so dass es dem Leser nicht schwer fällt zu entscheiden, wem er seine Sympathie schenkt. Ausser Miranda stehen die Erwachsenen in keinem besonders guten Licht: weder Tims geldgierige Eltern, noch der dienstbeflissene britische Botschafter Sir Cuthbert und erst recht nicht der grausame Major Raki und der fiese Oberst Zinfandel. Dagegen erweckt Grk, der Hund, des Lesers volle Sympathie. Er macht seinem Namen, der aus dem Stanislavischen kommt und übersetzt mutig, selbstlos und einfältig heisst, grosse Ehre. Mutig und selbstlos, weil er sein Herrchen in gefährlichen Situationen nicht alleine lässt. Einfältig, weil er als Hund nicht immer die Gedankengänge eines Menschen erraten kann und mehr seinen tierischen Instinkten folgt. Und damit schliesst sich der Kreis: Tim und Grk gehören zusammen, weil sie beide mutig, selbstlos und aus der Sicht der Erwachsenen ein wenig einfältig sind. Gemeinsam meistern sie unglaubliche Abenteuer, die den Leser in ihren Bann ziehen, gerade weil sie so aussichtslos erscheinen.
Apropos Joshua Doder
Der Autor von Grk ist in London geboren und nicht nur ein begnadete Schreiber, sondern liebt grosse Reisen, kommt aber immer wieder nach London zurück, wo er mit seiner blauen Vespa von der Kensingtonroad zum Piccadilly Circus braust. Er sammelt Bücher, die er immer wieder lesen kann, hat eine grosse Anzahl japanischer Porzellantässelchen und -tellerchen, in denen ihm der englische Frühstückstee ganz besonders mundet, und arbeitet, weil es ihm Spass macht. Zum Beispiel in einer Bibliothek, zum Beispiel als Schauspieler und einmal sogar als Chef; wenn das nix ist ... Und zum guten Ende, bevor ich «Unbedingt lesen: Jetzt, sofort und immer wieder!» sage, möchte ich noch darauf aufmerksam machen, dass dasselbe auch für den Folgeband «Grk und die Pelotti-Bande» gilt!
Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
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