Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Stroud, Jonathan. Valley : Tal der Wächter ; aus dem Engl. von Katharina Orgass und Gerald Jung. - München : cbi, 2009.
(ISBN 978-3-570-13493-1)
Ein Tal mit zwölf Familienstämmen, alle bewohnen in Eintracht das Tal, aus dem sie stammen. Waffen und Kriege sind verboten, denn aus dem Tal heraus können sie nicht. Schreckliche, mysteriöse Wesen, von allen Trolde genannt, bevölkern die Unterwelt und geben Nacht für Nacht all jenen einen grausamen Tod, die es wagen, einen Fuss ausserhalb des Tals zu setzen. Nur den zwölf Helden, den Urahnen jedes Familienstammes, ist es zu verdanken, dass die Trolde die Menschen nicht in ihren Häusern im Tal aufsuchen. Laut einer alten Legende stellten sich die mutigen Männer vor vielen Jahrhunderten mit der Gewissheit auf den Tod in einer letzten, grausamen Schlacht den Trolden und vertrieben sie für immer aus dem Tal. Nur die alten Hügelgräber auf der Talkuppe zeugen noch von den Ereignissen. Und der Legende nach stehen die alten Helden auch heute noch jede Nacht aus ihren Gräbern auf, um die Trolde vom Tal fernzuhalten.
Der junge Hal, aufmüpfig und unzufrieden mit seinem Dasein, lebt seit jeher in diesem Tal seiner Vorfahren. Gemeinsam mit seiner Familie führt er ein streng geregeltes Alltagsleben und sehnt sich im Grunde nur nach zwei Dingen: Freiheit und grosse Heldentaten vollbringen zu können.
Die Geschichten um die Grenze zu den Trolden und die Heldentaten seiner Vorfahren faszinieren ihn sehr, und gebannt hört er jeden Abend den Erzählungen seines viel herumgereisten Onkels Brodir zu. Immer öfters formt sich im kleinen Jungen der Wunsch, aufzubrechen und selbst eigene Abenteuer erleben zu können. Doch seine Familie bindet den Jungspund immer wieder in neue, eintönige Aufgaben ein, und der Alltag verläuft ereignislos…
Bis Hal auf einer Versammlung des Tales die kleine Aud kennenlernt, ein pfiffiges Mädchen aus dem Unterland, welches ihn von Anfang an in seinen Bann zieht und ihn mit ihrer frohen und lebenslustigen Art inspiriert. Zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, und nach ihrer Abreise zurück in ihre Heimat ist bei beiden nichts mehr wie zuvor.
Schliesslich überschlagen sich die Ereignisse. Hal wird Zeuge am Mord seines geliebten Onkels Brodir. Die gerechte Strafe fehlt und wutentbrannt macht er sich auf den Weg zu Brodirs Mördern mit nur einem Ziel: Rache für seinen Onkel. Auf seiner Wanderung quer durch das ganze Tal lernt er vieles kennen; Freunde, Feinde, neue Landschaften, Erlebnisse und vor allem sich selbst. Langsam beginnt er zu begreifen, was für ihn wirklich zählt. Noch lässt er sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Und als er begreift, was für Dinge er ins Rollen gebracht hat, ist es bereits zu spät. Die Familien rüsten sich zum Krieg und sogar die Helden der alten Zeit müssen wieder neu erwachen… Und jetzt geht es um alles: seine Familie, sein Leben, seine Freiheit und vor allem seine grosse Liebe Aud.
Der Autor Jonathan Stroud, vielen bekannt durch die „Bartimäus“-Trilogie, hat es einmal mehr geschafft, eine spannende und fesselnde Story mit einer einzigartigen Erzählweise zu verknüpfen - ein lesenswertes Buch, das Jung und Alt in Bann zu ziehen vermag!
Melanie Eugster, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
Andrić, Ivo. Das Fräulein ; übersetzt aus dem Serbokroatischen von Edmund Schneeweis. [Nachdruck.] – Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 2003.
(ISBN 978-3-518-39989-7)
Erste Geschäftsfrau Sarajevos
„Du musst gegen dich und andere unbarmherzig sein. Spare immer und mit allem, und kümmere dich um nichts und niemand“. Dies sind die Worte, die Rajkas Vater seiner Tochter 1907 auf dem Sterbebett einschärft. Er, einst einer der angesehensten Geschäftsleute in Sarajevo, ist bankrott gegangen und kann diese Schmach nicht verkraften.
Die fünfzehn-jährige Tochter Rajka hält sich streng an diesen Rat. Sie nimmt sofort die Zügel in die Hand: Der herrschaftliche Haushalt wird minimiert, langjährige Bedienstete entlassen, üppige Empfänge sind Vergangenheit. Rajkas Mutter wehrt sich kaum.
Daneben zieht Rajka ein Geldleihgeschäft auf und beginnt mit Wertpapieren zu handeln. Bewusst empfängt sie ihre Klienten in ungeheiztem Raum und verweigert oftmals einen Kredit. Keiner kann sich erinnern, dass in Sarajevo je ein weibliches Geschöpf im Geldgeschäft tätig war. Bald ist sie verschrien als Halsabschneiderin und moderne Hexe.
Die Welt des Geldes nimmt sie gefangen. Sie träumt von der Million und unterdrückt erfolgreich alle menschlichen Regungen. Heiratskandidaten weist sie schroff zurück und auch Altersgenossinnen sind ihr immer gleichgültiger.
Von der Politik, so glaubt sie, hält man sich besser ganz fern. Als am 28. Juni 1914 in ihrer unmittelbaren Nähe Thronfolger Franz Ferdinand erschossen wird, wundert sie sich bloss über den grossen Tumult in den Strassen.
Die Kriegsjahre erlebt Rajka als lebhaften, seltsamen Traum. Vorerst spekuliert sie und macht Riesengewinne, spart und ist glücklich. Doch die Geschäfte beginnen stark zu schwanken, Schulden bezahlt bald niemand mehr und Rajka fürchtet sich auf der Verliererseite zu landen. Ein schrecklicher Traum vom Untergang des Geldes rüttelt sie auf.
Mit eigenartiger Faszination folgt der Leser der jungen Frau und erlebt die Nachkriegsjahre aus ihrer „Maulwurfperspektive“: Eigenbrötlerisch, starrköpfig und elend geizig wagt sie es, sich über Konventionen hinwegzusetzen. Sie wird reicher und einsamer und muss schliesslich nach Belgrad fliehen. Als sie jedoch dort dem jungen Ratko begegnet, ist sie bereit, ihre Prinzipien über Bord zu werfen.
Der Autor Ivo Andrić (1892–1975) studierte Philosophie, Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Krakau und Graz und verbrachte während des Ersten Weltkrieges als Mitglied der revolutionären Organisation Mlada Bosna ein Jahr in Haft. Andrić war Diplomat und Politiker und wurde 1963 als jugoslawischer Schriftsteller mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Das Fräulein entstand 1945 neben den zwei weiteren grossen Romanen Die Brücke über die Drina und Wesire und Konsuln.
Sabeth Oertle, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Trogen
De Robertis, Carolina. Die unsichtbaren Stimmen : Roman ; aus dem Englischen von Adeljeid Zöfel und Cornelia Holfelder-von der Tann. - Frankfurt a.M. : S. Fischer Verlag, 2009.
(ISBN 978-3-8105-0799-0)
„Die unsichtbaren Stimmen“ ist der erste Roman von Carolina De Robertis. Sie erzählt darin eine gewaltige Familiensaga über drei Generationen Frauenschicksale in Uruguay: Mutter, Tochter, Enkelin. Es beinhaltet das Leben dreier Frauen mit einem unbändigen Drang zu einem selbst bestimmten Leben. Die Mutter Pajarita hat nie schreiben gelernt, die Tochter Eva wird Dichterin und die Enkelin Salomé setzt für die Revolution Uruguays ihr Leben aufs Spiel. Drei willensstarke Charaktere vor den Farben, Geräuschen und Gerüchen Südamerikas, dargestellt in einer kraftvollen glänzenden Sprache, toll übersetzt und mit hohem Suchtfaktor.
Die Handlung ist chronologisch geschrieben und sie spannt den Bogen von der Zeit um 1900 bis heute. Alles beginnt mit einem südamerikanischen Wunder: aus einem Baum, aus schwindelnder Höhe, fällt ein kleines Mädchen. Man nennt sie Pajarita, „kleiner Vogel“. Sie stammt aus Tacuarembo, einem verschlafenen Nest am Rio Negro, nahe der brasilianischen Grenze. Pajarita heiratet einen italienischen Auswanderer und zieht mit ihm nach Montevideo, wo sie ihre vier Kinder grosszieht. Ihre einzige Tochter Eva geht „über den Fluss“ vom kleinen, rückständigen Uruguay nach Argentinien, findet ihre grosse Liebe und lebt als Dichterin in Kreisen der Bohème von Buenos Aries. Es die Zeit der Ära Peron, die kurze Blütezeit von Evita Peron, dann der Rutsch in die Diktatur. Eva und ihr Mann müssen alles zurück lassen und fliehen nach Montevideo. Später zerbricht die Ehe und Eva zieht die beiden Kinder Roberto und Salomé allein bei ihrer Familie gross. Es sind die 1960er Jahre, die Zeit der Revolutionen in aller Welt. Es ist die grosse Zeit von Fidel Castro und Che Guevara. In Uruguay kämpfen die „Tupamaros“ gegen die Militärdiktatur. Evas Tochter Salomé schliesst sich heimlich den Rebellen an. Sie wird bei Unruhen verhaftet und verschwindet für vierzehn Jahre ins Gefängnis. Sie bringt dort auch ihr einziges Kind Viktoria zur Welt, dass sie kurz nach der Geburt weggeben muss. Nach der Haft erholt sie sich im Montevideo der 1980er Jahre und findet nur langsam wieder ins Leben zurück. Der gigantische Schluss dieses Frauenromans ist gleichzeitig der Höhepunkt, aber auch hier ist es wieder die Sprache, in die den Leser in südamerikanische Klischees eintauchen lässt.
Dieser Roman erzählt nicht nur drei ganz ungewöhnliche Liebesgeschichten, er erzählt auch von Zauberei, Transsexualität, von Treue und Verrat, von dem Glück, sich in einer grossen Familie geborgen zu fühlen und immer wieder von der unbedingten Liebe einer Mutter zu ihren Kindern. Der Originaltitel „The Invisible Mountain“ spielt auf den „unsichtbaren Berg“ von Montevideo, der Hauptstadt Uruguays an. Der Legende nach rief der erste Europäer, der dieses Land erblickte „Monte, vide Eu“ (Berg, ich sehe dich). Aber hier gab es keinen Berg, nur eine leichte Anhöhe im Landesinneren. Der deutsche Titel „Die unsichtbaren Stimmen“ bezieht sich auf die Stimmen und Gesänge der Guarani, der indianischen Urbevölkerung Uruguays.
Carolina De Robertis ist 1975 geboren und entstammt selber einer uruguayischen Familie, wuchs aber in der Schweiz, England und in Kalifornien auf, wo sie heute noch in Oakland lebt. Schon als Kind sammelte Carolina De Robertis Geschichten. Als sie zwölf Jahre alt war, erzählte ihr Vater ihr alle ihm bekannten Geschichten über die eigene Familie. Carolina De Robertis ist mit diesen vierhundertsechzig Seiten ein echtes Meisterwerk gelungen und zeigt, was wirklich grosse Literatur ausmacht: sie verdichtet die Wirklichkeit und sie zeigt, dass das Leben eines Menschen nicht nur mit den Menschen in der Nähe, sondern immer auch mit seiner Umwelt, mit dem Land, den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten verknüpft ist. Carolina De Robertis ist ohne Zweifel ein neuer Stern am Himmel der südamerikanischen Literatur. Sie verkörpert mit ihrer Sprache und ihrer Erzählfreude jetzt schon eine grosse literarische Stimme, von der wir hoffentlich noch lange hören werden.
Carolin Kugler-Müller, Bibliothek Wolfhalden
Asher, Jay. Tote Mädchen lügen nicht. Aus dem Amerikanischen von Knut Krüger. - Gütersloh: Bertelmann, 2009.
(ISBN 978-3-570-16020-6)
Post von einer Toten zu bekommen ist ziemlich unheimlich. Clay Jensen, der mit Hannah befreundet gewesen ist, reagiert auf das Päckchen, das ihn wenige Tage nach ihrem Selbstmord erreicht, dann auch verstört. Es enthält eine Reihe von Audio-Kassetten, die Hannah mit einer langen Botschaft besprochen hat, gerichtet an alle, die irgendetwas mit ihrer Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, zu tun hat. Ahnungslos, was ihn erwartet, legt Clay die erste Kassette in einen Kassettenrekorder und wird mit Hannahs Worten “Hallo zusammen, hier spricht Hannah Baker, Live und in Stereo” empfangen.
Nach und nach wird deutlich, dass jede der dreizehn Kassettenseiten einem oder einer Mitschülerin gewidmet ist. Hannah erzählt. Der Leser liest, bezugsweise hört, wer Hannah was angetan, und sie in ihren Entscheid, sich das Leben zu nehmen, bestärkt hat. Jeder der erwähnten Schüler und Schülerinnen wird die Kassetten chronologisch nach Geschehen bekommen und hören müssen. Clay wird die Kassetten also nach dem Abhören, genau der notierten Instruktion der Toten entsprechend weiterschicken.
Clay ist verwirrt, denn er war in Hannah verliebt, jedoch zu schüchtern ihr das anzuvertrauen. Was hat er mit dem Selbstmord von Hannah zu tun? Was wird sie ihm anlasten. Clay hat Angst. Die Leser auch. Interessant ist, dass man sich in diesem Buch nicht wirklich als Leser oder Leserin, sondern eher als Mithörer, bzw. Mithörerin fühlt. Mit Schrecken wartet also nicht nur Clay, während er mit dem Walkman bis in die Nacht durch die Stadt tigert, auf die Kassettenseite, wo seine Person ins Spiel kommt, sondern auch der und die Leserin lauschen mit, was Hannah erzählt. Die Zeit schleicht, die qualvollen Stunden sind endlos, voller Verzweiflung …
Jay Ashers Buch (Übersetzung: Knut Krüger) hat eine faszinierende Grundidee. Der Autor, so steht es im Buchumschlag, kam auf die Idee mit den Kassetten, als er bei einer Audioführung im Museum eine ähnliche Erfahrung, wie wir jetzt als Lesende machte. Vorgedachte, vollzogene Gedanken und Gefühle von jemand anderem werden einem über die Kopfhörer erzählt, aufgezwungen.
Schon nach wenigen Seiten ist man als Lesende, Lesender gefangen. Es gibt kein Ausweichen, keine Möglichkeit die Aus-Taste zu drücken, denn man liest ja. Die Möglichkeit beim Kassettenrekorder Aus zu drücken hat nur Clay. Er stoppt das Band, um von seinen Gefühlen und Erinnerungen und seinen Begegnungen, die er in dieser Nacht hat, zu erzählen. Mit diesem abrupten Wechsel scheint die Audiotechnik in eine literarische Form übertragen worden zu sein. Ständig wird man aufgerüttelt, nie kommt eine ruhige, längere Erzählphase. Die Stimme des Mädchens und der Kommentar und die Erlebnisse des Jungen verbinden sich erst beim Lesen. Wer ist wirklich schuld am Selbstmord von Hannah?
Jay Ashers Buch ist keine einfache Lektüre – und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen greifen ständig die Gedanken Clays sowie die Tonbandaufzeichnungen Hannahs ineinander – sie setzen sich nur dadurch voneinander ab, dass Letztere immer kursiv gedruckt sind. Das erfordert beim Lesen höchste Aufmerksamkeit. Clay reflektiert und kommentiert ständig in Gedanken, was er über die Kopfhörer erzählt bekommt – er drückt seine Selbstzweifel, seine Schüchternheit verbal aus und ist unfähig irgendwie zu reagieren, wie könnte er auch. Er empört sich darüber, wie sich andere Hannah gegenüber verhalten haben, er hält Hannahs Erzählungen kaum aus, ist zugleich jedoch durch Gehörtes so in Bann gezogen, dass er mit dem Weiterhören nicht mehr aufhören kann.
Zum anderen mutet das Buch dem Leser auch inhaltlich einiges zu. Hannah hat Schlimmes erlebt und sie erzählt alles, gnadenlos. Nicht nur Clay ist schockiert, auch als Leser ist man es. Die schlimmen Erlebnisse in Hannahs Leben spitzen sich zu, immer mehr. Der nicht nur bei Hannah keimende, Gedanke an Selbstmord macht die Lesenden, die dasselbe denken, mitverantwortlich. Es ist grauenhaft, beim Lesen oft fast nicht auszuhalten.
Dass Clay dabei eine äusserst sympathische Figur ist, die schüchtern, nachdenklich und einfühlsam geschildert wird, dass der Junge im Nachhinein feststellen muss, dass er selbst an einer entscheidenden Stelle anders handeln und damit vielleicht das Weitere verhindern hätte können, gehört zu den besonders traurigen Episoden in diesem Buch.
Ich glaube ich habe noch kein Buch erlebt, das bei mir eine solche Betroffenheit, aber auch Begeisterung ausgelöst hat, Ich konnte es von der ersten bis zur letzten Zeile nicht einmal aus der Hand legen. Es war unmöglich.
Es ist kein gewöhnlicher Psychothriller für Jugendliche, sondern ein Jugendbuch, das vor psychologischer Spannung knistert, zugleich aber auch aktuelle Themen anspricht und den Leser damit zum Nachdenken zwingt. Die Sprache ist bemerkenswert und hält ihr Niveau. Clay und Hannahs Geschichte kann man sich nicht entziehen – dazu ist sie einfach zu aufwühlend und ausserdem zu virtuos gestrickt.
Am Ende legt man das Buch dann doch aus der Hand, kann einerseits verstehen, dass Hannah ihrem Leben ein Ende bereitet hat, wehrt sich jedoch zugleich – Gott sei Dank – auch gegen den Selbstmord des Mädchens, indem man sich fragt, ob Hannah nicht doch auch anders hätte handeln können …
Ich würde dieses Jugendbuch auch einer erwachsenen Leserschaft dringend empfehlen, ebenfalls ist als Klassenlektüre für die Oberstufe sehr geeignet.
Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
Drayson, Nicholas. Kleine Vogelkunde Ostafrikas : Roman ; deutsch von Sabine Meier-Längsfeld. - Reinbek bei Hamburg : Kindler Verlag, 2008.
(ISBN 978-3-463-40554-4)
Welche Vögel, die in Nairobi vorkommen, kennen Sie? Vielleicht den Riesenturako? Oder das Kräuselhauben-Perlhuhn? Den Paradiesschnäpper? Nein? Wahrscheinlich müssten Sie, so wie auch ich, mehr raten oder in einem Buch nachschlagen als es zu wissen. Oder sie lesen die „Kleine Vogelkunde Ostafrikas“ und ich versichere Ihnen: Nachher kennen Sie mehr! In dieser Geschichte lernen wir nämlich Mr. Malik kennen, einen auf den ersten Blick eher langweiligen, bravbürgerlichen Nachkommen indischer Einwanderer. Er ist Witwer und Geschäftsmann im Ruhestand. Seit Jahren besucht er die örtliche Gruppe der Vogelbeobachter in Nairobi. Zum einen interessieren ihn die Vögel, zum anderen ist er seit drei Jahren heimlich in die Leiterin, Rose Mbikwa, verliebt. Ihr Herz allerdings schlägt für die Vögel, und als Honorardirektorin der ornithologischen Gesellschaft nimmt sie sich jeden Dienstagvormittag frei, um die Vogelwanderung zu führen. Rose hat sich während eines Keniaurlaubs entschieden, nicht mehr in die alte Heimat England zurück zu kehren. So lebt sie seit 1970 in Kenia. Auch sie ist mittlerweile verwitwet.
Als Mr. Malik nun seinen lang gehegten Wunsch, Rose zum alljährlich stattfindenden Nairobi Hunting Ball einzuladen, endlich in die Tat umsetzten will, taucht ausgerechnet sein Konkurrent auf, der reiche, verwöhnte und von allen wegen seines Charmes bewunderte Harry Kahn.
Die Wette gilt
Kennengelernt haben sich Mr. Malik und Harry Kahn in der Schule. Schon damals war Harry Kahn Malik immer einen Schritt voraus, fand leicht Freunde, war klug, humorvoll, sportlich. In dieser Zeit trieb Kahn gerne seine Spiele mit Malik, der sich als allzu leichtes Opfer entpuppte. Um nun zu entscheiden, wer Rose Mbikwa zum Ball führen darf, Mr. Malik oder Harry Kahn, beschliessen die beiden vor den Mitgliedern von Mr. Maliks Club – sehr seriös, sehr altmodisch, sehr komisch –, eine Wette abzuschliessen. Es soll sie jener um die Ballbegleitung bitten dürfen, der innerhalb einer Woche mehr unterschiedliche Vögel gesehen hat als der andere.
Der draufgängerische Harry Kahn schnappt sich sofort zwei weitere Beobachter, um vogelreiche Landstriche abzusuchen und scheut dazu keinen Aufwand. Anders Mr. Malik, der sich schlicht und einfach im eigenen Garten und im Stadtpark von Nairobi umsieht.
Wer zum Schluss den Erfolg verbuchen kann, soll hier nicht verraten werden. Aber in dieser charmanten, witzigen Liebesgeschichte, die vorhersehbar und klischeehaft beginnt, wird die Leserschaft durch präzise, humorvolle Beobachtungen von menschlicher wie auch ornithologischer Fauna überrascht. Der britisch-australische Autor Nicholas Drayson wurde 1954 in England geboren. Er studierte Geschichte sowie Wissenschaftsphilosophie in London und absolvierte eine Ausbildung als Journalist. Seit 1982 lebt der Autor in Australien. 1997 schloss er das Studium der Zoologie und Naturwissenschaft ab. Er verbrachte zwei Jahre in Kenia.
Priska Monnet, Gemeindebibliothek Speicher-Trogen
Kapuściński, Ryszard. Notizen eines Weltbürgers ; aus dem Polnischen von Martin Pollack. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. - München : Piper, 2008.
(ISBN 978-3-492-25236-2)
Es ist immer wieder reizvoll, von Leuten zu lernen, die über Jahre vertieft einer Fragestellung auf den Grund zu gehen versuch(t)en: Sie haben etwas erkannt und können etwas weitergeben; ihnen kann man zuhören und staunen. Ich habe den am 23. Januar 2007 verstorbenen Journalisten Ryszard Kapuściński zu dessen Lebzeiten nie wahrgenommen. Heute lese ich seine Texte wie im Rausch: Seine «Fragestellung» war nichts Bescheideneres als die Welt, der Planet Erde. Einen Tag nach dem Tode Kapuścińskis steht im Spiegel: «… dieser kosmopolitische Pole konnte die Welt nicht nur beschreiben, er konnte sie auch erklären. Und wer kann das schon?» Die NZZ lässt am gleichen Tag den Nachruf mit einem Zitat Kapuścińskis enden: «Ich denke, dass in meiner Prosa die Poesie einen unerhörten Einfluss hat, weil sie uns immer daran erinnert, dass die Sprache in unserer Darstellung das Allerwichtigste ist.»
Erklärende Beschreibung und Poesie
Beide Zitate scheinen mir das Wesentliche zu bezeichnen, was mich durch die Texte Kapuścińskis zieht: die erklärende Beschreibung und die Poesie. Die «Notizen eines Weltbürgers» sind im Original als Teile IV und V einer Reihe mit dem Titel «Lapidarium» publiziert; eine Sammlung in Form einer Collage von unterschiedlichen Dingen, eine Art Arbeitsjournal, das Kapuściński seit dem Publikationsverbot 1980 infolge der «Solidarność»-Ereignisse führte. Sie bestehen aus Beobachtungen, Tagebuchsplittern, Fragmenten und Reflexionen, die mit «14. Juni 97», «Samstag, 9. Januar 1999», «September 2000», «7. April 2002» oder nicht datiert sind. Diese Journaleinträge sind, so habe ich nicht ohne Staunen festgestellt, heute aktueller denn je: «Es fällt nicht leicht, sich bewusst zu machen, dass wir nicht allein auf der Welt sind», steht auf S. 224: «Und dass die Anwesenheit anderer, auf fernen Kontinenten wohnender Menschen einen Einfluss auf uns und unser Schicksal haben wird. Dem Denken, das diese Tatsache ignoriert, fehlt eine wichtige globale Perspektive.» – Auf S. 59 lesen wir: «Die Welt nach dem Kalten Krieg ist eine Welt diffuser Gefahren. Die Angst vor der Atombombe wurde abgelöst von der Angst vor dem Menschen, der uns in einer dunklen Straße entgegenkommt.»
Freundlichkeit
Am Beispiel der Globalisierung und deren Auswirkungen, am Beispiel der weltweiten Ungleichheit vor allem innerhalb von Kulturkreisen, mit einem wachen Blick auf Amerika, Afrika, Europa und seine katholische Heimat Polen, die seine Weltsicht prägte, und mit einem kritischen Blick auf die Medien, denen genau auf die Finger zu schauen «und auf alle Manipulationen zu achten» sei (S. 23), regt uns Kapuściński in seinen «Notizen» zum Nachdenken an. «Was erfahren wir als das vorteilhafteste, beste, positivste Merkmal der Menschen? Die Freundlichkeit. Die Freundlichkeit gegenüber dem Anderen, eine Freundlichkeit, die das Böse vertreibt und ein Klima schafft, das alles ermöglicht, was uns gut und wichtig erscheint.» (S. 80)
Heidi Eisenhut, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden
Kuckero, Ulrike. Alice im Mongolenland ; mit Bildern von Maja Bohn. - Stuttgart : Thienemann Verlag, 2009.
(ISBN 978-3-522-18156-3)
Mit elf Jahren schon Prinzessin sein? Ach, wäre das nicht wunderbar? Zoë ist realistisch genug diese Aussage als Träumerei zu formulieren, als Möglichkeit, wenn man einfach so wünschen könnte... Anders ihre Zwillingsschwester Alice. Sie ist eine Prinzessin, ganz ehrlich. Sie trägt ihre Spielzeugkrone, wann immer sie kann, sogar zum Krippenspiel an Weihnachten. Und sie verlangt, dass Zoë als ihre Zofe auftritt. Alice hat Trisomie 21, Down-Syndrom. Dieser Tatsache entsprechend könnte nun ein politisch korrektes, ehrgeiziges Kinderbuch folgen, das die Leser anhält, nicht negativ über Behinderte, Behinderungen zu sprechen. Passiert aber gar nicht, denn Ulrike Kuckeros Erzählung ist vor allem eines: sie ist lustig und inspiriert von Alices naivem Glauben, dass alles gut wird, wenn man Prinzessin ist. In ihrer Klasse – die Schwestern gehen auf eine Integrationsschule – bringt Alice diese sehr selbstbewusste und vielleicht darum die Mitschülerinnen verunsichernde Haltung zusätzlichen Spott ein, vor allem aber wird sie wegen ihres Aussehens gehänselt. "Wo habt ihr denn diesen Mongo adoptiert?" Zoë, die ihre Schwester über alles liebt, oft aber auch als Nummer 2 vorlieb nehmen muss, hat es satt. Immer wieder ist ihre Zwillingsschwester Alice Anlass für Fragen, Irritation oder Anstarren. Alles nur, weil sie das Down-Syndrom hat. Jetzt reicht es ihr: "Na, wo kommen Mongos wohl her? Aus der Mongolei natürlich!" Zufälligerweise hat Alice diese schlagfertige Antwort ihrer Schwester Zoë mit angehört und so nimmt eine unglaubliche Geschichte ihren Lauf. Denn natürlich ist Alice kein bisschen adoptiert, und aus der Mongolei stammt sie schon gar nicht! Doch dieser kurze Schlagabtausch hat der dickköpfigen Elfjährigen mit dem Down-Syndrom einen solchen Riesenfloh ins Ohr gesetzt, dass sie vollkommen davon überzeugt ist, den Grund für ihre Andersartigkeit in jenem geheimnisvollen Land zu finden. Jedenfalls lässt Alice nicht mehr locker. Begeistert sammelt sie monatelang Informationen über die Mongolei, spricht von der Mongolei, träumt von der Mongolei. Und weil Alice auch ein Glückspilz ist, gewinnt sie bei der Einweihung des neuen Flughafens einen Reisegutschein für die ganze Familie. Es kann also tatsächlich losgehen! Sensibel und humorvoll lässt die Bremer Kinderbuchautorin Ulrike Kuckero im ersten Teil ihres ungewöhnlichen Romans Zoë vom bewegten Alltag mit ihrer behinderten Schwester erzählen: Von ihren gefürchteten Wutanfällen, ihrer strahlenden Fröhlichkeit, ihrer frechen Klappe, den spontanen Liebesbezeugungen und anstrengenden Prinzessinnen-Allüren. Dabei beschreibt sie keine Handicaps, sondern eine quicklebendige und starke Persönlichkeit, die ihre Mitmenschen mächtig auf Trab hält....
Ein Buch, das glücklich macht. Alice sagt über sich selbst: "Ich bin ein Glückskind. Ich liebe es, Glück zu haben!" Und das färbt ab.
Die Illustrationen von Maja Bohn passen perfekt zur Stimmung des Buches. Alice und ihre Abenteuer sind gut getroffen und die Fröhlichkeit der Geschichte wird sichtbar.
Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
Murail, Marie-Aude. Simpel ; aus dem Franz. von Tobias Scheffel. - Frankfurt a.M. : Fischer, 2007.
(ISBN 978-3-596-85207-9) Auch als Hörbuch.
Simpel, 22-jährig, geistig behindert, musste seit dem Tod seiner Mutter in einer Anstalt leben. Als sein Bruder Colbert, 17-jährig, ein Studium in Paris beginnt, beschliesst er, seinen Bruder mit sich zu nehmen. Voller Zuversicht reisen die beiden nach Paris und können bei einer Grosstante ihr Quartier beziehen. Da sich die beiden dort nicht wohl fühlen, macht sich Colbert auf die Suche nach einer neuen Bleibe.
Durch Zufall sticht ihm eine Anzeige in die Augen, in der zwei Studenten für eine Wohngemeinschaft gesucht werden. Colbert bewirbt sich um die Wohnung und es kommt zur persönlichen Vorstellung. Die WG-Bewohner, drei Männer und eine Frau, sind anfänglich irritiert über Simpel. Colbert gelingt es jedoch, die Bedenken der andern zu entschärfen und dank dem Entgegenkommen der WG-Bewohner können die beiden einziehen. Das Zusammenleben mit Simpel stellt die Gemeinschaft vor diverse Fragen. Was geschieht zum Beispiel, wenn Colbert die Schule besucht und Simpel alleine in der Wohnung zurück lässt?
Simpel besitzt den Intelligenzquotienten eines dreijährigen Kindes und liebt seinen Stoffhasen namens "Monsieur Hase-Hase". Mit seinen Playmobilfiguren spielt er oft "Anstalt". Dieses Spiel ist geprägt durch viel Gewalt und grosse Ängste. Simpel lebt darin seine Anstalt-Erfahrungen nach. Enzo, ein WG-Mitbewohner, ist während des Tages oft zu Hause und beobachtet Simpel beim "Anstaltsspiel". Zwischen den beiden wächst eine gegenseitige enge Beziehung. Dem listigen "Monsieur Hase-Hase" gelingt es immer wieder, Simpel zu neuem Unfug anzustiften, welcher von Colbert ausgebügelt werden muss. In der Zwischenzeit lernt Colbert in der Schule zwei junge Frauen kennen. Damit wird sein Leben noch komplizierter. Wie soll er nebst der Schule auf Simpel aufpassen und ein Rendezvous zustande bringen? So weiss er bald nicht mehr ein und aus. In der Not vereinbart er mit der Jugend-Fürsorgerin, dass Simpel die Woche in der Anstalt verbringen muss und an den Wochenenden in der WG leben darf. Die Wohngemeinschaft ist erschüttert über diesen Entscheid. Sie schätzt vor allem Simpels ausgeprägtes Gespür für die Gemeinschaft. Mit seiner einfachen, direkten und einfühlsamen Art gelingt es ihm immer wieder, die Mitbewohner aufzumuntern, so dass sie die Wohnung ohne ihn als leer empfinden. Und so bietet jedes WG-Mitglied Colbert Hilfe an mit dem Ziel, Simpel auch unter der Woche unter sich zu wissen.
Auf humorvolle und unterhaltsame Weise wird die nicht leichte Situation aller Beteiligten beschrieben. Vor allem der Moment, in dem Simpel wieder zurück in die Anstalt muss, wird ergreifend dargestellt. Obwohl das Buch als Jugendbuch geschrieben wurde ist es ebenfalls sehr empfehlenswert für Erwachsene. Es zeigt den Wert einer behinderten Person auf und schildert, wie bereichernd und glückbringend eine Beziehung zu einem solchen Mitmenschen sein kann. Marie-Aude Murail ist in Frankreich eine der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Für dieses Buch erhielt sie den Prix des lycéens allemands 2006 sowie den Deutschen Jugendliteraturpreis 2008.
Karin Zgraggen, Bibliothek Teufen
Neumann, Robert. Die Kinder von Wien : Roman ; mit Schwarz-Weiss-Fotografien von Ernst Haas und einem ausgreifenden Nachwort von Ulrich Weinzierl. - Frankfurt a.M. : Eichborn, 2008.
(ISBN 978-3-8218-6200-2)
Kinder zwischen Krieg und Frieden
Es gab im letzten, gar noch nicht so definitiv vergangenen Jahrhundert einige Schriftsteller-Koryphäen, die Jahr für Jahr ein Buch zustandegebracht haben, vom Büchermachen also gelebt haben – und doch heute vergessen sind. Otto Flake zähle ich zu ihnen († 1963, 83-jährig), Lion Feuchtwanger († 1958, 76-jährig), Frank Thiess († 1977, 87-jährig); unter Schweizern Alfred Fankhauser († 1973, 83-jährig), etwa auch Jakob Schaffner († 1944, 69-jährig).
Ihnen zuzuzählen haben wir auch Robert Neumann († 1979). 78 Jahre gelebt, 50 Jahre lang geschrieben, rund 45 Titel publiziert, mehrere davon zuerst englischsprachig. Wer sich an Neumann erinnert, verbindet seinen Namen mit hochstehender Parodie-Kunst. Der erste Band gesammelter Nachahmungen, eigentliche Stilstudien, hat "Mit fremder Feder" geheissen, der zweite "Unter fremder Flagge". Mir sind die literarisch gekonnten Modellstücke Neumanns in Taschenbuchausgaben der siebziger Jahre begegnet (1978 bzw. 1979 bei Rowohlt).
Ist – mit Ausnahme mustergültiger Nachschreib- oder Nachäffungen – Robert Neumann vergessen? Oder ins Abseits gerückt, weil heutzutage 34-jährige Literaturkritikerinnen ans Schweizer Fernsehen geholt werden, welche sich zur kanadischen Erzählerin Alice Munroe, zum amerikanischen Romancier Saul Bellow als literarischen Vorbildern bekennen?
Das darf so sein – das müsste nicht so sein. Der Frankfurter Eichborn Verlag hat vor anderthalb Jahren – in seiner über alles verdienstlichen Reihe DIE ANDERE BIBLIOTHEK Neumanns unerhörten Kurzroman "Die Kinder von Wien" neu herausgebracht – mit jener schönen Sorgfalt, welche die Reihe seit je (d. h. seit der Gründung durch H. M. Enzensberger) auszeichnet. Das Buch erzählt in einer ungeheuer modernen Tonlage das Nachkriegs-Dasein von sechs jungen Menschen. "Wien" ist ein Fabelname; Schauplatz des Geschehens (historisch 1945/46) könnte jede radikal bombardierte Stadt der Welt sein. Zwei Besatzungsmächte (die "Siegermächte") verhandeln darin Territorial-Ansprüche.
Die Halbwüchsigen, die in einer Kellerruine das Überleben üben (und auf ihre Weise meistern), sind der jüdische Junge Jid, ein blonder Deutscher, Goy geheissen, die vielleicht 15-jährige Gelegenheits-Prostituierte Ewa, deren Freundin Ate, gewesene BMD-Führerin, ein zirka siebenjähriger Bub mit Namen oder Übernamen Curls (Lockiger) und ein Mädchen im Kinderwagenalter, "das Kindl" genannt. Allenfalls noch "Herr Müller", der Kellerhund. In den aussichtsarmen Lebenskampf mischen sich ein Ex-Nazi, dem das Grundstück des insgesamt verschütteten Hauses als Baugrund gefiele; andererseits ein schwarzer Militärgeistlicher, der den Halbwüchsigen zu helfen sucht und sie – versehen mit falschen Papieren – in die Schweiz schaffen will. Über einen kolossalen Berg aus Eis und Schnee. Mit einem ramponierten Jeep. In achtzehnstündiger Fahrt. Auf der anderen Seite des Gletscherbergs flösse Milch und ränne Honig.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute
Siebelink, Jan. Die Schülerin ; aus dem Niederländischen von Bettina Bach. - Zürich, Hamburg : Arche, 2009.
(ISBN 978-3-7160-2616-8)
Ort der Handlung ist das fast hundertjährige Descartes mit hellroten strengen hohen Mauern und ungleich spitzen Türmen, eher einem Lustschloss aus dem 18. Jahrhundert ähnelnd als einem Gymnasium.
Der 26-jährige Marc Cordesius hat an seinem ersten Schultag als Französischlehrer des angesehenen Gymnasiums eine schicksalhafte Begegnung mit einem rätselhaften Mädchen, der Marokkanerin Najoua. Auf unerklärliche Weise fühlen sich beide sofort zueinander hingezogen. Als Najoua sich in Marcs Klasse versetzen lässt, nimmt eine unheilvolle Verbindung ihren Lauf. Der dandyhafte, attraktive und sehr gebildete Marc erregt gleichzeitig Neid und Bewunderung bei vielen seiner Lehrerkollegen. Zu Beginn jedoch überwiegt die bedingungslose Bewunderung. Obwohl der junge Lehrer sich vom Mittelmass abhebt und auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen scheint, wird rasch klar, dass Marc eine schwere Bürde mit sich trägt: seine Vergangenheit. Seine Mutter wurde am helllichten Tag entführt und in der Folge vergewaltigt und getötet. Ihre Leiche blieb unauffindbar.
Najoua ist das erste Wesen, das Marc ausser seiner Mutter und Grossmutter liebt. Obwohl das Verhältnis der beiden rein platonischer Art ist, nimmt das Lehrerkollegium bald Anstoss daran. Die Gerüchte werden lauter. Das Mädchen flüchtet sich unter diesem Druck in Krankheit und Isolation. Bevor jedoch die letzte Begegnung zwischen Najoua und Marc in einem Fiasko endet, beginnt das Leben am Descartes verheissungsvoll. Marc macht rasch Bekanntschaft mit den übrigen Lehrern. Da ist sein Verbündeter Egbers, Geschichtslehrer, von seinen Kollegen wie ein Paria behandelt. Mit de Labadie teilt Marc ein peinliches Jugenderlebnis. Rafael Pilger, eine schillernde und zugleich abgründige Persönlichkeit, ist Schulleiter und wird in der Folge Marc viele Privilegien verschaffen, ihn jedoch am Ende fallenlassen. Schliesslich ist da auch noch Kees Herkenrath, der Deutschlehrer, der vergeblich versucht, sich bei Schülern und Lehrerkollegen Autorität zu verschaffen. Nur Marc begegnet ihm respektvoll und deshalb wird Herkenrath auch dann zu ihm stehen, wenn alle anderen sich von ihm abwenden.
Die Geschichte nimmt anlässlich der hundertjährigen Jubiläumsfeier der Schule einen verhängnisvollen Lauf. Marc greift den Physiklehrer Morrenhof, der ihn beleidigt, tätlich an. Auch die Beziehung zu Najoua ist schwierig geworden, da sie sich durch ihre Magersucht dem Leben entzieht. Marc bleibt ihr jedoch treu. Die letzte Begegnung zwischen den beiden macht deutlich, dass es keine gemeinsame Zukunft geben wird. Die Geschichte, die unerbittlich und unaufhaltsam einem vorhersehbaren Ende zustrebt, versöhnt den Leser mit dem überraschenden Epilog, der eine hoffnungsvolle Zukunft entwirft.
Beeindruckend ist die atmosphärisch dichte Sprache des Autors. Er vermag von Anfang an zu fesseln und seine Beschreibung des Abgründigen und Schönen menschlicher Beziehungen zeugen von einer scharfen Beobachtungsgabe. Dass er selbst lange als Lehrer tätig war und ein profunder Kenner der französischen Sprache und Literatur ist, wird sofort klar. Das Buch ist für die Leser bestimmt, die das Alltägliche, Plakative, Offensichtliche meiden und eher leise Töne bevorzugen. "Le destin n'a pas de morale" - dieser Satz Roger Vaillands mag als eine Art Leitmotiv für die Geschichte dienen.
Cornelia Schmidli, Bibliothek Schwellbrunn
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