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MEDIENTIPPS

Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen

 

Asher, Jay. Tote Mädchen lügen nicht. Aus dem Amerikanischen von Knut Krüger. - Gütersloh: Bertelmann, 2009.
(ISBN 978-3-570-16020-6)

Post von einer Toten zu bekommen ist ziemlich unheimlich. Clay Jensen, der mit Hannah befreundet gewesen ist, reagiert auf das Päckchen, das ihn wenige Tage nach ihrem Selbstmord erreicht, dann auch verstört. Es enthält eine Reihe von Audio-Kassetten, die Hannah mit einer langen Botschaft besprochen hat, gerichtet an alle, die irgendetwas mit ihrer Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, zu tun hat. Ahnungslos, was ihn erwartet, legt Clay die erste Kassette in einen Kassettenrekorder und wird mit Hannahs Worten “Hallo zusammen, hier spricht Hannah Baker, Live und in Stereo” empfangen.

Nach und nach wird deutlich, dass jede der dreizehn Kassettenseiten einem oder einer Mitschülerin gewidmet ist. Hannah erzählt. Der Leser liest, bezugsweise hört, wer Hannah was angetan, und sie in ihren Entscheid, sich das Leben zu nehmen, bestärkt hat. Jeder der erwähnten Schüler und Schülerinnen wird die Kassetten chronologisch nach Geschehen bekommen und hören müssen. Clay wird die Kassetten also nach dem Abhören, genau der notierten Instruktion der Toten entsprechend weiterschicken.

Clay ist verwirrt, denn er war in Hannah verliebt, jedoch zu schüchtern ihr das anzuvertrauen. Was hat er mit dem Selbstmord von Hannah zu tun? Was wird sie ihm anlasten. Clay hat Angst. Die Leser auch. Interessant ist, dass man sich in diesem Buch nicht wirklich als Leser oder Leserin, sondern eher als Mithörer, bzw. Mithörerin fühlt. Mit Schrecken wartet also nicht nur Clay, während er mit dem Walkman bis in die Nacht durch die Stadt tigert, auf die Kassettenseite, wo seine Person ins Spiel kommt, sondern auch der und die Leserin lauschen mit, was Hannah erzählt. Die Zeit schleicht, die qualvollen Stunden sind endlos, voller Verzweiflung …
Jay Ashers Buch (Übersetzung: Knut Krüger) hat eine faszinierende Grundidee. Der Autor, so steht es im Buchumschlag, kam auf die Idee mit den Kassetten, als er bei einer Audioführung im Museum eine ähnliche Erfahrung, wie wir jetzt als Lesende machte. Vorgedachte, vollzogene Gedanken und Gefühle von jemand anderem werden einem über die Kopfhörer erzählt, aufgezwungen.

Schon nach wenigen Seiten ist man als Lesende, Lesender gefangen. Es gibt kein Ausweichen, keine Möglichkeit die Aus-Taste zu drücken, denn man liest ja. Die Möglichkeit beim Kassettenrekorder Aus zu drücken hat nur Clay. Er stoppt das Band, um von seinen Gefühlen und Erinnerungen und seinen Begegnungen, die er in dieser Nacht hat, zu erzählen. Mit diesem abrupten Wechsel scheint die Audiotechnik in eine literarische Form übertragen worden zu sein. Ständig wird man aufgerüttelt, nie kommt eine ruhige, längere Erzählphase. Die Stimme des Mädchens und der Kommentar und die Erlebnisse des Jungen verbinden sich erst beim Lesen. 
Wer ist wirklich schuld am Selbstmord von Hannah?

Jay Ashers Buch ist keine einfache Lektüre – und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen greifen ständig die Gedanken Clays sowie die Tonbandaufzeichnungen Hannahs ineinander – sie setzen sich nur dadurch voneinander ab, dass Letztere immer kursiv gedruckt sind. Das erfordert beim Lesen höchste Aufmerksamkeit. Clay reflektiert und kommentiert ständig in Gedanken, was er über die Kopfhörer erzählt bekommt – er drückt seine Selbstzweifel, seine Schüchternheit verbal aus und ist unfähig irgendwie zu reagieren, wie könnte er auch. Er empört sich darüber, wie sich andere Hannah gegenüber verhalten haben, er hält Hannahs Erzählungen kaum aus, ist zugleich jedoch durch Gehörtes so in Bann gezogen, dass er mit dem Weiterhören nicht mehr aufhören kann.

Zum anderen mutet das Buch dem Leser auch inhaltlich einiges zu. Hannah hat Schlimmes erlebt und sie erzählt alles, gnadenlos. Nicht nur Clay ist schockiert, auch als Leser ist man es. Die schlimmen Erlebnisse in Hannahs Leben spitzen sich zu, immer mehr. Der nicht nur bei Hannah keimende, Gedanke an Selbstmord macht die Lesenden, die dasselbe denken, mitverantwortlich. Es ist grauenhaft, beim Lesen oft fast nicht auszuhalten.

Dass Clay dabei eine äusserst sympathische Figur ist, die schüchtern, nachdenklich und einfühlsam geschildert wird, dass der Junge im Nachhinein feststellen muss, dass er selbst an einer entscheidenden Stelle anders handeln und damit vielleicht das Weitere verhindern hätte können, gehört zu den besonders traurigen Episoden in diesem Buch.

Ich glaube ich habe noch kein Buch erlebt, das bei mir eine solche Betroffenheit, aber auch Begeisterung ausgelöst hat, Ich konnte es von der ersten bis zur letzten Zeile nicht einmal aus der Hand legen. Es war unmöglich.

Es ist kein gewöhnlicher Psychothriller für Jugendliche, sondern ein Jugendbuch, das vor psychologischer Spannung knistert, zugleich aber auch aktuelle Themen anspricht und den Leser damit zum Nachdenken zwingt. Die Sprache ist bemerkenswert und hält ihr Niveau. Clay und Hannahs Geschichte kann man sich nicht entziehen – dazu ist sie einfach zu aufwühlend und ausserdem zu virtuos gestrickt.

Am Ende legt man das Buch dann doch aus der Hand, kann einerseits verstehen, dass Hannah ihrem Leben ein Ende bereitet hat, wehrt sich jedoch zugleich – Gott sei Dank – auch gegen den Selbstmord des Mädchens, indem man sich fragt, ob Hannah nicht doch auch anders hätte handeln können …
Ich würde dieses Jugendbuch auch einer erwachsenen Leserschaft dringend empfehlen, ebenfalls ist als Klassenlektüre für die Oberstufe sehr geeignet.

Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden

Drayson, Nicholas. Kleine Vogelkunde Ostafrikas : Roman ; deutsch von Sabine Meier-Längsfeld. - Reinbek bei Hamburg : Kindler Verlag, 2008.
(ISBN 978-3-463-40554-4)

Welche Vögel, die in Nairobi vorkommen, kennen Sie? Vielleicht den Riesenturako? Oder das Kräuselhauben-Perlhuhn? Den Paradiesschnäpper? Nein? Wahrscheinlich müssten Sie, so wie auch ich, mehr raten oder in einem Buch nachschlagen als es zu wissen. Oder sie lesen die „Kleine Vogelkunde Ostafrikas“ und ich versichere Ihnen: Nachher kennen Sie mehr! In dieser Geschichte lernen wir nämlich Mr. Malik kennen, einen auf den ersten Blick eher langweiligen, bravbürgerlichen Nachkommen indischer Einwanderer. Er ist Witwer und Geschäftsmann im Ruhestand. Seit Jahren besucht er die örtliche Gruppe der Vogelbeobachter in Nairobi. Zum einen interessieren ihn die Vögel, zum anderen ist er seit drei Jahren heimlich in die Leiterin, Rose Mbikwa, verliebt. Ihr Herz allerdings schlägt für die Vögel, und als Honorardirektorin der ornithologischen Gesellschaft nimmt sie sich jeden Dienstagvormittag frei, um die Vogelwanderung zu führen. Rose hat sich während eines Keniaurlaubs entschieden, nicht mehr in die alte Heimat England zurück zu kehren. So lebt sie seit 1970 in Kenia. Auch sie ist mittlerweile verwitwet.

Als Mr. Malik nun seinen lang gehegten Wunsch, Rose zum alljährlich stattfindenden Nairobi Hunting Ball einzuladen, endlich in die Tat umsetzten will, taucht ausgerechnet sein Konkurrent auf, der reiche, verwöhnte und von allen wegen seines Charmes bewunderte Harry Kahn.

Die Wette gilt
Kennengelernt haben sich Mr. Malik und Harry Kahn in der Schule. Schon damals war Harry Kahn Malik immer einen Schritt voraus, fand leicht Freunde, war klug, humorvoll, sportlich. In dieser Zeit trieb Kahn gerne seine Spiele mit Malik, der sich als allzu leichtes Opfer entpuppte. Um nun zu entscheiden, wer Rose Mbikwa zum Ball führen darf, Mr. Malik oder Harry Kahn, beschliessen die beiden vor den Mitgliedern von Mr. Maliks Club – sehr seriös, sehr altmodisch, sehr komisch –, eine Wette abzuschliessen. Es soll sie jener um die Ballbegleitung bitten dürfen, der innerhalb einer Woche mehr unterschiedliche Vögel gesehen hat als der andere.
Der draufgängerische Harry Kahn schnappt sich sofort zwei weitere Beobachter, um vogelreiche Landstriche abzusuchen und scheut dazu keinen Aufwand. Anders Mr. Malik, der sich schlicht und einfach im eigenen Garten und im Stadtpark von Nairobi umsieht.
 
Wer zum Schluss den Erfolg verbuchen kann, soll hier nicht verraten werden. Aber in dieser charmanten, witzigen Liebesgeschichte, die vorhersehbar und klischeehaft beginnt, wird die Leserschaft durch präzise, humorvolle Beobachtungen von menschlicher wie auch ornithologischer Fauna überrascht. Der britisch-australische Autor Nicholas Drayson wurde 1954 in England geboren. Er studierte Geschichte sowie Wissenschaftsphilosophie in London und absolvierte eine Ausbildung als Journalist. Seit 1982 lebt der Autor in Australien. 1997 schloss er das Studium der Zoologie und Naturwissenschaft ab. Er verbrachte zwei Jahre in Kenia.

Priska Monnet, Gemeindebibliothek Speicher-Trogen


Kapuściński, Ryszard. Notizen eines Weltbürgers ; aus dem Polnischen von Martin Pollack. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. - München : Piper, 2008.
(ISBN 978-3-492-25236-2)

Es ist immer wieder reizvoll, von Leuten zu lernen, die über Jahre vertieft einer Fragestellung auf den Grund zu gehen versuch(t)en: Sie haben etwas erkannt und können etwas weitergeben; ihnen kann man zuhören und staunen. Ich habe den am 23. Januar 2007 verstorbenen Journalisten Ryszard Kapuściński zu dessen Lebzeiten nie wahrgenommen. Heute lese ich seine Texte wie im Rausch: Seine «Fragestellung» war nichts Bescheideneres als die Welt, der Planet Erde. Einen Tag nach dem Tode Kapuścińskis steht im Spiegel: «… dieser kosmopolitische Pole konnte die Welt nicht nur beschreiben, er konnte sie auch erklären. Und wer kann das schon?» Die NZZ lässt am gleichen Tag den Nachruf mit einem Zitat Kapuścińskis enden: «Ich denke, dass in meiner Prosa die Poesie einen unerhörten Einfluss hat, weil sie uns immer daran erinnert, dass die Sprache in unserer Darstellung das Allerwichtigste ist.»

Erklärende Beschreibung und Poesie
Beide Zitate scheinen mir das Wesentliche zu bezeichnen, was mich durch die Texte Kapuścińskis zieht: die erklärende Beschreibung und die Poesie. Die «Notizen eines Weltbürgers» sind im Original als Teile IV und V einer Reihe mit dem Titel «Lapidarium» publiziert; eine Sammlung in Form einer Collage von unterschiedlichen Dingen, eine Art Arbeitsjournal, das Kapuściński seit dem Publikationsverbot 1980 infolge der «Solidarność»-Ereignisse führte. Sie bestehen aus Beobachtungen, Tagebuchsplittern, Fragmenten und Reflexionen, die mit «14. Juni 97», «Samstag, 9. Januar 1999», «September 2000», «7. April 2002» oder nicht datiert sind. Diese Journaleinträge sind, so habe ich nicht ohne Staunen festgestellt, heute aktueller denn je: «Es fällt nicht leicht, sich bewusst zu machen, dass wir nicht allein auf der Welt sind», steht auf S. 224: «Und dass die Anwesenheit anderer, auf fernen Kontinenten wohnender Menschen einen Einfluss auf uns und unser Schicksal haben wird. Dem Denken, das diese Tatsache ignoriert, fehlt eine wichtige globale Perspektive.» – Auf S. 59 lesen wir: «Die Welt nach dem Kalten Krieg ist eine Welt diffuser Gefahren. Die Angst vor der Atombombe wurde abgelöst von der Angst vor dem Menschen, der uns in einer dunklen Straße entgegenkommt.»

Freundlichkeit
Am Beispiel der Globalisierung und deren Auswirkungen, am Beispiel der weltweiten Ungleichheit vor allem innerhalb von Kulturkreisen, mit einem wachen Blick auf Amerika, Afrika, Europa und seine katholische Heimat Polen, die seine Weltsicht prägte, und mit einem kritischen Blick auf die Medien, denen genau auf die Finger zu schauen «und auf alle Manipulationen zu achten» sei (S. 23), regt uns Kapuściński in seinen «Notizen» zum Nachdenken an. «Was erfahren wir als das vorteilhafteste, beste, positivste Merkmal der Menschen? Die Freundlichkeit. Die Freundlichkeit gegenüber dem Anderen, eine Freundlichkeit, die das Böse vertreibt und ein Klima schafft, das alles ermöglicht, was uns gut und wichtig erscheint.» (S. 80)

Heidi Eisenhut, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

Kuckero, Ulrike. Alice im Mongolenland ; mit Bildern von Maja Bohn. Stuttgart : Thienemann Verlag, 2009.
(ISBN 978-3-522-18156-3)

Mit elf Jahren schon Prinzessin sein? Ach, wäre das nicht wunderbar? Zoë ist realistisch genug diese Aussage als Träumerei zu formulieren, als Möglichkeit, wenn man einfach so wünschen könnte... Anders ihre Zwillingsschwester Alice. Sie ist eine Prinzessin, ganz ehrlich. Sie trägt ihre Spielzeugkrone, wann immer sie kann, sogar zum Krippenspiel an Weihnachten. Und sie verlangt, dass Zoë als ihre Zofe auftritt. Alice hat Trisomie 21, Down-Syndrom. Dieser Tatsache entsprechend könnte nun ein politisch korrektes, ehrgeiziges Kinderbuch folgen, das die Leser anhält, nicht negativ über Behinderte, Behinderungen zu sprechen. Passiert aber gar nicht, denn Ulrike Kuckeros Erzählung ist vor allem eines: sie ist lustig und inspiriert von Alices naivem Glauben, dass alles gut wird, wenn man Prinzessin ist. In ihrer Klasse – die Schwestern gehen auf eine Integrationsschule – bringt Alice diese sehr selbstbewusste und vielleicht darum die Mitschülerinnen verunsichernde Haltung zusätzlichen Spott ein, vor allem aber wird sie wegen ihres Aussehens gehänselt. "Wo habt ihr denn diesen Mongo adoptiert?" Zoë, die ihre Schwester über alles liebt, oft aber auch als Nummer 2 vorlieb nehmen muss, hat es satt. Immer wieder ist ihre Zwillingsschwester Alice Anlass für Fragen, Irritation oder Anstarren. Alles nur, weil sie das Down-Syndrom hat. Jetzt reicht es ihr: "Na, wo kommen Mongos wohl her? Aus der Mongolei natürlich!" Zufälligerweise hat Alice diese schlagfertige Antwort ihrer Schwester Zoë mit angehört und so nimmt eine unglaubliche Geschichte ihren Lauf. Denn natürlich ist Alice kein bisschen adoptiert, und aus der Mongolei stammt sie schon gar nicht! Doch dieser kurze Schlagabtausch hat der dickköpfigen Elfjährigen mit dem Down-Syndrom einen solchen Riesenfloh ins Ohr gesetzt, dass sie vollkommen davon überzeugt ist, den Grund für ihre Andersartigkeit in jenem geheimnisvollen Land zu finden. Jedenfalls lässt Alice nicht mehr locker. Begeistert sammelt sie monatelang Informationen über die Mongolei, spricht von der Mongolei, träumt von der Mongolei. Und weil Alice auch ein Glückspilz ist, gewinnt sie bei der Einweihung des neuen Flughafens einen Reisegutschein für die ganze Familie. Es kann also tatsächlich losgehen! Sensibel und humorvoll lässt die Bremer Kinderbuchautorin Ulrike Kuckero im ersten Teil ihres ungewöhnlichen Romans Zoë vom bewegten Alltag mit ihrer behinderten Schwester erzählen: Von ihren gefürchteten Wutanfällen, ihrer strahlenden Fröhlichkeit, ihrer frechen Klappe, den spontanen Liebesbezeugungen und anstrengenden Prinzessinnen-Allüren. Dabei beschreibt sie keine Handicaps, sondern eine quicklebendige und starke Persönlichkeit, die ihre Mitmenschen mächtig auf Trab hält....

Ein Buch, das glücklich macht. Alice sagt über sich selbst: "Ich bin ein Glückskind. Ich liebe es, Glück zu haben!" Und das färbt ab.
Die Illustrationen von Maja Bohn passen perfekt zur Stimmung des Buches. Alice und ihre Abenteuer sind gut getroffen und die Fröhlichkeit der Geschichte wird sichtbar.

Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden

Murail, Marie-Aude. Simpel ; aus dem Franz. von Tobias Scheffel. - Frankfurt a.M. : Fischer, 2007.
(ISBN 978-3-596-85207-9) Auch als Hörbuch.

Simpel, 22-jährig, geistig behindert, musste seit dem Tod seiner Mutter in einer Anstalt leben. Als sein Bruder Colbert, 17-jährig, ein Studium in Paris beginnt, beschliesst er, seinen Bruder mit sich zu nehmen. Voller Zuversicht reisen die beiden nach Paris und können bei einer Grosstante ihr Quartier beziehen. Da sich die beiden dort nicht wohl fühlen, macht sich Colbert auf die Suche nach einer neuen Bleibe.

Durch Zufall sticht ihm eine Anzeige in die Augen, in der zwei Studenten für eine Wohngemeinschaft gesucht werden. Colbert bewirbt sich um die Wohnung und es kommt zur persönlichen Vorstellung. Die WG-Bewohner, drei Männer und eine Frau, sind anfänglich irritiert über Simpel. Colbert gelingt es jedoch, die Bedenken der andern zu entschärfen und dank dem Entgegenkommen der WG-Bewohner können die beiden einziehen. Das Zusammenleben mit Simpel stellt die Gemeinschaft vor diverse Fragen. Was geschieht zum Beispiel, wenn Colbert die Schule besucht und Simpel alleine in der Wohnung zurück lässt?

Simpel besitzt den Intelligenzquotienten eines dreijährigen Kindes und liebt seinen Stoffhasen namens "Monsieur Hase-Hase". Mit seinen Playmobilfiguren spielt er oft "Anstalt". Dieses Spiel ist geprägt durch viel Gewalt und grosse Ängste. Simpel lebt darin seine Anstalt-Erfahrungen nach. Enzo, ein WG-Mitbewohner, ist während des Tages oft zu Hause und beobachtet Simpel beim "Anstaltsspiel". Zwischen den beiden wächst eine gegenseitige enge Beziehung. Dem listigen "Monsieur Hase-Hase" gelingt es immer wieder, Simpel zu neuem Unfug anzustiften, welcher von Colbert ausgebügelt werden muss. In der Zwischenzeit lernt Colbert in der Schule zwei junge Frauen kennen. Damit wird sein Leben noch komplizierter. Wie soll er nebst der Schule auf Simpel aufpassen und ein Rendezvous zustande bringen? So weiss er bald nicht mehr ein und aus. In der Not vereinbart er mit der Jugend-Fürsorgerin, dass Simpel die Woche in der Anstalt verbringen muss und an den Wochenenden in der WG leben darf. Die Wohngemeinschaft ist erschüttert über diesen Entscheid. Sie schätzt vor allem Simpels ausgeprägtes Gespür für die Gemeinschaft. Mit seiner einfachen, direkten und einfühlsamen Art gelingt es ihm immer wieder, die Mitbewohner aufzumuntern, so dass sie die Wohnung ohne ihn als leer empfinden. Und so bietet jedes WG-Mitglied Colbert Hilfe an mit dem Ziel, Simpel auch unter der Woche unter sich zu wissen.

Auf humorvolle und unterhaltsame Weise wird die nicht leichte Situation aller Beteiligten beschrieben. Vor allem der Moment, in dem Simpel wieder zurück in die Anstalt muss, wird ergreifend dargestellt. Obwohl das Buch als Jugendbuch geschrieben wurde ist es ebenfalls sehr empfehlenswert für Erwachsene. Es zeigt den Wert einer behinderten Person auf und schildert, wie bereichernd und glückbringend eine Beziehung zu einem solchen Mitmenschen sein kann. Marie-Aude Murail ist in Frankreich eine der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Für dieses Buch erhielt sie den Prix des lycéens allemands 2006 sowie den Deutschen Jugendliteraturpreis 2008.

Karin Zgraggen, Bibliothek Teufen

Neumann, Robert. Die Kinder von Wien : Roman ; mit Schwarz-Weiss-Fotografien von Ernst Haas und einem ausgreifenden Nachwort von Ulrich Weinzierl. - Frankfurt a.M. : Eichborn, 2008.
(ISBN 978-3-8218-6200-2)

Kinder zwischen Krieg und Frieden

Es gab im letzten, gar noch nicht so definitiv vergangenen Jahrhundert einige Schriftsteller-Koryphäen, die Jahr für Jahr ein Buch zustandegebracht haben, vom Büchermachen also gelebt haben – und doch heute vergessen sind. Otto Flake zähle ich zu ihnen († 1963, 83-jährig), Lion Feuchtwanger († 1958, 76-jährig), Frank Thiess († 1977, 87-jährig); unter Schweizern Alfred Fankhauser († 1973, 83-jährig), etwa auch Jakob Schaffner († 1944, 69-jährig).

Ihnen zuzuzählen haben wir auch Robert Neumann († 1979). 78 Jahre gelebt, 50 Jahre lang geschrieben, rund 45 Titel publiziert, mehrere davon zuerst englischsprachig. Wer sich an Neumann erinnert, verbindet seinen Namen mit hochstehender Parodie-Kunst. Der erste Band gesammelter Nachahmungen, eigentliche Stilstudien, hat "Mit fremder Feder" geheissen, der zweite "Unter fremder Flagge". Mir sind die literarisch gekonnten Modellstücke Neumanns in Taschenbuchausgaben der siebziger Jahre begegnet (1978 bzw. 1979 bei Rowohlt).

Ist – mit Ausnahme mustergültiger Nachschreib- oder Nachäffungen – Robert Neumann vergessen? Oder ins Abseits gerückt, weil heutzutage 34-jährige Literaturkritikerinnen ans Schweizer Fernsehen geholt werden, welche sich zur kanadischen Erzählerin Alice Munroe, zum amerikanischen Romancier Saul Bellow als literarischen Vorbildern bekennen?

Das darf so sein – das müsste nicht so sein. Der Frankfurter Eichborn Verlag hat vor anderthalb Jahren – in seiner über alles verdienstlichen Reihe DIE ANDERE BIBLIOTHEK Neumanns unerhörten Kurzroman "Die Kinder von Wien" neu herausgebracht – mit jener schönen Sorgfalt, welche die Reihe seit je (d. h. seit der Gründung durch H. M. Enzensberger) auszeichnet. Das Buch erzählt in einer ungeheuer modernen Tonlage das Nachkriegs-Dasein von sechs jungen Menschen. "Wien" ist ein Fabelname; Schauplatz des Geschehens (historisch 1945/46) könnte jede radikal bombardierte Stadt der Welt sein. Zwei Besatzungsmächte (die "Siegermächte") verhandeln darin Territorial-Ansprüche.

Die Halbwüchsigen, die in einer Kellerruine das Überleben üben (und auf ihre Weise meistern), sind der jüdische Junge Jid, ein blonder Deutscher, Goy geheissen, die vielleicht 15-jährige Gelegenheits-Prostituierte Ewa, deren Freundin Ate, gewesene BMD-Führerin, ein zirka siebenjähriger Bub mit Namen oder Übernamen Curls (Lockiger) und ein Mädchen im Kinderwagenalter, "das Kindl" genannt. Allenfalls noch "Herr Müller", der Kellerhund. In den aussichtsarmen Lebenskampf mischen sich ein Ex-Nazi, dem das Grundstück des insgesamt verschütteten Hauses als Baugrund gefiele; andererseits ein schwarzer Militärgeistlicher, der den Halbwüchsigen zu helfen sucht und sie – versehen mit falschen Papieren – in die Schweiz schaffen will. Über einen kolossalen Berg aus Eis und Schnee. Mit einem ramponierten Jeep. In achtzehnstündiger Fahrt. Auf der anderen Seite des Gletscherbergs flösse Milch und ränne Honig.

Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute

Siebelink, Jan. Die Schülerin ; aus dem Niederländischen von Bettina Bach. - Zürich, Hamburg : Arche, 2009.
(ISBN 978-3-7160-2616-8)

Ort der Handlung ist das fast hundertjährige Descartes mit hellroten strengen hohen Mauern und ungleich spitzen Türmen, eher einem Lustschloss aus dem 18. Jahrhundert ähnelnd als einem Gymnasium.

Der 26-jährige Marc Cordesius hat an seinem ersten Schultag als Französischlehrer des angesehenen Gymnasiums eine schicksalhafte Begegnung mit einem rätselhaften Mädchen, der Marokkanerin Najoua. Auf unerklärliche Weise fühlen sich beide sofort zueinander hingezogen. Als Najoua sich in Marcs Klasse versetzen lässt, nimmt eine unheilvolle Verbindung ihren Lauf. Der dandyhafte, attraktive und sehr gebildete Marc erregt gleichzeitig Neid und Bewunderung bei vielen seiner Lehrerkollegen. Zu Beginn jedoch überwiegt die bedingungslose Bewunderung. Obwohl der junge Lehrer sich vom Mittelmass abhebt und auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen scheint, wird rasch klar, dass Marc eine schwere Bürde mit sich trägt: seine Vergangenheit. Seine Mutter wurde am helllichten Tag entführt und in der Folge vergewaltigt und getötet. Ihre Leiche blieb unauffindbar.

Najoua ist das erste Wesen, das Marc ausser seiner Mutter und Grossmutter liebt. Obwohl das Verhältnis der beiden rein platonischer Art ist, nimmt das Lehrerkollegium bald Anstoss daran. Die Gerüchte werden lauter. Das Mädchen flüchtet sich unter diesem Druck in Krankheit und Isolation. Bevor jedoch die letzte Begegnung zwischen Najoua und Marc in einem Fiasko endet, beginnt das Leben am Descartes verheissungsvoll. Marc macht rasch Bekanntschaft mit den übrigen Lehrern. Da ist sein Verbündeter Egbers, Geschichtslehrer, von seinen Kollegen wie ein Paria behandelt. Mit de Labadie teilt Marc ein peinliches Jugenderlebnis. Rafael Pilger, eine schillernde und zugleich abgründige Persönlichkeit, ist Schulleiter und wird in der Folge Marc viele Privilegien verschaffen, ihn  jedoch am Ende fallenlassen. Schliesslich ist da auch noch Kees Herkenrath, der Deutschlehrer, der vergeblich versucht, sich bei Schülern und Lehrerkollegen Autorität zu verschaffen. Nur Marc begegnet ihm respektvoll und deshalb wird Herkenrath auch dann zu ihm stehen, wenn alle anderen sich von ihm abwenden.

Die Geschichte nimmt anlässlich der hundertjährigen Jubiläumsfeier der Schule einen verhängnisvollen Lauf. Marc greift den Physiklehrer Morrenhof, der ihn beleidigt, tätlich an. Auch die Beziehung zu Najoua ist schwierig geworden, da sie sich durch ihre Magersucht dem Leben entzieht. Marc bleibt ihr jedoch treu. Die letzte Begegnung zwischen den beiden macht deutlich, dass es keine gemeinsame Zukunft geben wird. Die Geschichte, die unerbittlich und unaufhaltsam einem vorhersehbaren Ende zustrebt, versöhnt den Leser mit dem überraschenden Epilog, der eine hoffnungsvolle Zukunft entwirft.
Beeindruckend ist die atmosphärisch dichte Sprache des Autors. Er vermag von Anfang an zu fesseln und seine Beschreibung des Abgründigen und Schönen menschlicher Beziehungen zeugen von einer scharfen Beobachtungsgabe. Dass er selbst lange als Lehrer tätig war und ein profunder Kenner der französischen Sprache und Literatur ist, wird sofort klar. Das Buch ist für die Leser bestimmt, die das Alltägliche, Plakative, Offensichtliche meiden und eher leise Töne bevorzugen. "Le destin n'a pas de morale" - dieser Satz Roger Vaillands mag als eine Art Leitmotiv für die Geschichte dienen.

Cornelia Schmidli, Bibliothek Schwellbrunn

Martinez, Carole. Das genähte Herz ; aus dem Franz. von Helene Greubel. - München: Piper, 2009.
(ISBN 978-3-492-05200-9)

Als Frasquita nebst anderen besonderen Gaben in den Besitz des wundersamen Kästchens kommt, das von je her von Mutter zu Tochter vererbt wird, eröffnet sich ihr eine ganz neue Welt. Ihr offenbart sich ein wahrer Schatz an schönsten Garnen in leuchtenden Farben. Unter ihrer Nadel entstehen aus Lumpen die herrlichsten Stoffe und Stickereien. Als sie im selbst genähten Hochzeitskleid zur Kirche schreitet, fangen die gestickten Blumen auf magische Weise zu leben an. Noch nie wurde in Santavela ein solch zauberhaftes und kostbares Kleid gesehen. Wenn die stolze Braut auch insgeheim bewundert wird, so begegnen ihr die Menschen im Dorf mit Missgunst und Aberglauben. Sie wird gar als Hexe verschrien. Die Beschimpfungen lassen Frasquita klein werden und die Blumen auf ihrem Kleid verblühen.
Als ihr Mann José nach Möbel und Haus sogar die Ehefrau verspielt, packt die mutige, unbeirrbare Frau Proviant, Decken und ihre fünf Kinder in den Handwagen und begibt sich auf eine lange, dramatische Reise durch den heissen Süden Spaniens und übers Meer bis zur Wüste Afrikas.

Die Autorin Carole Martinez
1966 geboren, arbeitet als Französischlehrerin und lebt mit ihrer Familie bei Paris. Für ihren Début-Roman ist sie bereits achtfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Prix Renaudot des Lycéens und dem Prix Ouest-France-Etonnant voyageurs. Helene Greubel hat das Buch aus dem Französischen übersetzt. Inspiriert von ihrer spanischen Grossmutter und ermuntert von Freunden, hat Martinez ihren ersten Roman unvollendet an den Gallimard Verlag in Paris geschickt, der ihr umgehend schrieb: „Ändern Sie nichts und schreiben Sie das Ende!“ So kommt die Leserschaft in den Genuss einer unvergleichlichen, poetischen und sinnlichen Lektüre. Die Autorin lässt die Geschichte von Frasquitas jüngster Tochter Soledad erzählen. „Das genähte Herz“ ist eine Mischung aus Märchen, Familiensaga und mystischer Erzählung voller Leidenschaft und Liebe. Land und Menschen sind von Armut und Ungerechtigkeit, aber auch von ungeheurer Vielfalt und Schönheit geprägt. So bunt und schillernd wie die Garne, die Frasquita höchst wundersam vernäht, so facettenreich beschreibt Martinez das Leben der aussergewöhnlichen Frau und ihrer ebenso interessanten Kinder. Sie schreibt in einer Sprache, die dahin fliesst wie Seide. Wort für Wort wird zu einem Faden zusammengeknüpft und am Ende zu einem grossartigen Ganzen verwoben. Trotz einiger irrealer Elemente erzählt das Buch viel Wahres über Menschen, Natur und Historie. Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird im wahrsten Sinn verzaubert. Eine magische Atmosphäre sorgt für Spannung vom Anfang bis zum letzten Satz.

Elisabeth Siller, Bibliothek Herisau

Jerome, Jerome K. Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! Nachwort von Ernst Leisi. 5. Aufl. - Zürich : Manesse, 2005. (Manesse Bibliothek der Weltliteratur.)
(ISBN: 978-3-7175-1544-9) Auch als Hörbuch.

Vergessen Sie für einmal alle aktuellen Bestseller. Es gibt Bücher und Autoren, die zu Unrecht auf dem Bücherbord verstauben und deren Wiederentdeckung sich wahrlich lohnt. „Drei Mann in einem Boot“ ist so eines. Wenn Sie also noch keine passende Lektüre für einen sonnig-schwülen Sommertag im Liegestuhl inklusive griffbereit kühlem Getränk haben, dann lege ich Ihnen die Geschichte dieser äusserst vertrackten Bootsfahrt dreier Herren nahe, welche dem Alltag Londons entfliehen möchten, um die wahre Natur zu erleben.

Geschrieben wurde dieser kurze Roman 1889 von Jerome K. Jerome. Ein Jahr zuvor hatte der 27-jährige, mittellose Autor die Flitterwochen mit seiner Frau auf einer Bootsfahrt auf der Themse verbracht. Diese Ausflugstage scheinen derart prägend und inspirierend gewesen zu sein, dass Jerome kurz nach der Rückkehr der Hochzeitsreise mit der Niederschrift seines wohl berühmtesten Werkes begann. Schon sehr schnell  nach der Veröffentlichung stellte sich ein derartiger Erfolg ein, dass dieses Buch in den nächsten zwanzig Jahren weltweit über eine Million Mal verkauft wurde und später als Vorlage für unzählige Theater-, Radio- und Filmbearbeitungen diente. Ein wahrer Geldsegen prasselte auf Jerome nieder und ermöglichte es ihm, sich von nun an ausschliesslich dem Schreiben zu widmen. Soviel dazu, wohin Flitterwochen auch noch führen können.

Doch worum genau geht es nun in dieser leichten und humorvollen Sommerlektüre? Die drei Freunde George, Harris und J. (plus ein Foxterrier) stellen einstimmig fest, dass sie alle ganz dringend Erholung von Alltag und Ehe benötigen. Schnell wird klar, dass nur eine Flussfahrt auf der Themse die Sehnsüchte der drei verwegenen Gesellen erfüllen und sie „aus den Ränken der geschminkten Zivilisation fortlocken“ kann. Natur, Abenteuer und Heldentum locken! Doch, was als heroischer Paukenschlag beginnt, mündet schon bald in eine klägliche Serie von Pleiten, Pech und Pannen: Schlechtes Wetter, fehlende Büchsenöffner, unvorhersehbare Tücken des Wassers, etc. etc….

Immer wieder lässt Jerome seinen Erzähler abschweifen („…das erinnert mich an …“) und serviert dem Leser herrliche Episoden voller Weisheiten und Witz; britischer Humor vom Feinsten halt. Und auch wenn dieses Buch schon über hundert Jahre auf dem Deckel hat, bleibt es zeitlos. Zeitlos deshalb, weil Jeromes Erzählweise schlicht genial ist und vor allem, weil unsere Spezies sich mit all ihren Fehlern, Eitelkeiten, und Torheiten nicht sehr verändert hat seit damals, als Männer noch Zylinder trugen und Frauen sich in Korsette zwängten. Und wenn wir heute noch über Dinge in Jeromes Roman herzhaft schmunzeln (ich musste beim ersten Lesen mehrmals laut lachen), dann auch deshalb, weil wir „modernen“ Menschen uns in vielen Ungeschicklichkeiten stets auch selber wieder erkennen.

Ich kann nur viel Vergnügen wünschen und beneide all jene, welche die Erstlektüre dieses Büchleins noch vor sich haben! Geniessen Sie jede Zeile und lassen Sie sich überraschen, was alles passieren kann, wenn drei Männer mit Hund auf Reise gehen!
P.S.: Falls Sie nach dem letzten Satz des Buches eine gewisse Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit den drei „Helden“ verspüren… Keine Bange. Dann empfehle ich „Drei Männer auf Bummelfahrt“; dort versuchen sich die drei alltagsmüden Gentlemen erneut im Reisen; diesmal auf einer wahrhaft radebrechenden Velotour durch Deutschland.

Gerold Ebneter, Kantonsschulmediothek Trogen

O`Faolain, Nuala. Dunkle Tage, helles Leben. - München : Diana Verlag, 2010.
(ISBN 978-3-453-29087-7.)

"In jungen Jahren gib deinem Leben Wurzeln, im Alter gib ihm Flügel…" An dieses Motto hält sich die eine Hauptperson in diesem Buch, die 69-jährige Irin Min, so ziemlich genau, während es ihre Nichte umgekehrt versucht. Min entdeckt plötzlich, was das Leben auch für eine „alte“ Frau noch bereithalten kann. Sie war seinerzeit als Ersatzmutter für ihre Nichte Rosie ins Haus gekommen. Nach dem Tod von Rosies Mutter war es für sie als deren Schwester selbstverständlich, sich um ihre Nichte und den Schwager zu kümmern. Dafür stellte sie alle ihre persönlichen Wünsche und Träume in den Hintergrund. Als Rosie erwachsen war und fortan in der weiten Welt zuhause war, lebte die Tante allein im kleinen Haus weiter und führte zusammen mit ihrer Katze ein geruhsames Leben, nur unterbrochen von gelegentlichen Besuchen im Pub, welche schon einmal mit einer Heimkehr im Polizeiauto enden konnten, weil sie dem Alkohol etwas zu sehr zugesprochen hatte.

Ganz im Gegensatz dazu ihre Nichte Rosie, die in jungen Jahren schon der Enge von Killbride, dem irischen Dorf, entflieht und bis ins mittlere Alter auf der ganzen Welt zuhause. ist. Nach einem Anruf einer Freundin von zuhause hat sie plötzlich das Verlangen, sich um ihre Tante zu kümmern. Sie streift ihre „Flügel“ ab und kehrt in das Dorf zurück. Das Zusammenleben mit Min gestaltet sich für Rosie anfangs etwas schwierig und so beschliesst sie, Min auf einen Kurzaufenthalt nach New York mitzunehmen, wo sie mit einem ehemaligen Schulkollegen ein Buch heraus bringen möchte.

Abenteuer in der neuen Welt
Dort entwickelt die ältere Dame plötzlich eine überraschende Energie, lernt in kurzer Zeit die verschiedensten Leute kennen. Rosie ist sehr besorgt über das Eigenleben ihrer Tante, vor allem als diese auch noch beginnt, illegal in einem Restaurant zu arbeiten. Auch von einer Rückkehr nach Irland will Min vorerst nichts mehr wissen, zu sehr nehmen ihre neuen Bekanntschaften und ihre Jobs sie in Beschlag.

Wieder zuhause
Etwas ratlos reist Rosi allein nach Hause und versucht nun, ihr Leben irgendwie auf die Reihe zu kriegen. Dabei helfen Freundinnen aus der Schulzeit, auch Bell, die Katze von Min muss versorgt werden und dann kommt der Brief, der ihr Leben verändern wird. Ein militärisches Sperrgebiet wird aufgehoben und plötzlich ist ihre Tante Besitzerin des Hauses auf der Insel wo sie mit Rosies Mutter aufgewachsen ist. Nun beginnt die Reise in die Vergangenheit und endet damit, dass Rosie in das alte Haus ziehen will. Natürlich gibt es da Einiges aufzuarbeiten, nicht nur bei der Renovation des baufälligen Hauses, auch in ihrem Innenleben gibt es einige „Baustellen“ die eine Ueberarbeitung dringend nötig haben. Da ist eine Liebesgeschichte, die vor sich hin dümpelt, mit dem Buch in Amerika geht es auch nicht so richtig voran. Nun hofft sie, in der Abgeschiedenheit ihres neuen Refugiums diese Dinge ordnen zu können. Natürlich ist Nuala O'Faolain für versierte Leser kein Geheimtipp, aber mit diesem, leider ihrem letzten Buch, möchte ich die Leser dazu ermutigen, sich mit einer der besten Schriftstellerinnen Irlands zu beschäftigen und auch ihre anderen Bücher zu lesen. Sie ist im Mai 2008 an Krebs gestorben.

Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel

 

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