Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Shilo, Sara. Zwerge kommen hier keine : Roman ; aus dem Hebräischen und mit einem Nachwort von Anne Birkenhauer. - München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. (dtv : Premium ; 24716)
(ISBN 978-3-423-24716-0)
Die Autorin und die Übersetzerin
Sara Shilo, geboren1958 in Israel, entstammt einer irakisch-syrischen Einwandererfamilie und hat mit ihrem ersten Roman gleich alle Bestsellerlisten in Israel gestürmt. Sie lebt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Nord-Galiläa an der libanesischen Grenze. Dieser Roman erzählt von marokkanischen Juden, die ihr Glück im gelobten Land suchen.
Die Übersetzerin, Anne Birkenhauer, stand vor der schwierigen Aufgabe, den Protagonisten eine Sprache zu geben, die einigermassen dem entspricht, was marokkanische Einwanderer in einer dörflichen Struktur am Rande Israels sprachlich entwickelt haben könnten. Dieses vom Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen war kein leichtes Unterfangen.
Die Geschichte
Zwerge kommen hier wirklich keine, obwohl sie immer wieder erwähnt werden und auch bitter nötig wären als Helfer in der Not, aber die Geschichte ist ja kein Märchen sondern sehr real. Es beginnt mit einem Unglück. Mass`ud, der Besitzer einer Falafel-Bude, stirbt völlig überraschend und Simona, seine Frau, erfährt nie, ob er an einem Herzschlag, einem Messerstich, an einer Verbrennung oder gar an allem zusammen gestorben ist. Denn die Verwandten schirmen den Toten ab damit sie ihn nicht sehen muss.
„Ich habe nichts. Nicht seinen Rücken. Nicht seine Hand. Auch sein Geruch ist von mir gegangen“
Alles ändert sich für Simona, sie muss allein für ihre vier Kinder sorgen und erleben, wie die Brüder ihres verstorbenen Mannes das Geschäft in kurzer Zeit ruinieren. Und damit nicht genug, sie ist auch noch schwanger mit Zwillingen die ihren Vater nie kennenlernen werden. Arbeit findet sie zwar in einer Kinderkrippe aber ihr Lebensmut will nicht zurückkehren und bald ist es ihr grösster Wunsch, eines Tages von einer Katjuscha-Rakete getroffen zu werden. Angriffe aus dem arabischen Raum sind beinahe an der Tagesordnung und sie nächtigt sogar einmal auf einem Fussballplatz um eine gute Zielscheibe abzugeben. Sie betet zu Gott, dass er den Arabern helfen soll, die Raketen richtig abzuschiessen, dass sie, Gott behüte, nicht noch halb am Leben bleibt und dann im Rollstuhl sitzen muss.
Die Kinder
Kobi, der älteste Sohn, hat eine schwierige Aufgabe übernommen, denn als die Zwillinge heranwachsen, bittet ihn die Mutter, in ihrem Zimmer zu schlafen und so schlüpft er in die Vaterrolle. Seine ganze Liebe gilt nun den kleinen Brüdern Oschri und Chaim und auch für seine Mutter würde er Alles tun um sie wieder glücklich zu sehen.
Etti, die einzige Tochter, vermisst ihren Vater sehr, denn sie hat viel Zeit mit ihm verbracht und sie ist gar nicht einverstanden, dass Kobi auf Mutters Wunsch den Vater ersetzt. Bald einmal, das hat sie sich fest vorgenommen, sollen die beiden die Wahrheit erfahren.
Dudi und Itzik, die beiden Brüder, sind unzertrennlich. Itzik ist mit einem Gebrechen auf die Welt gekommen, er kann seine missgestalteten Hände nicht gebrauchen. Aber alles, was damit gemacht werden muss, übernimmt Dudi, er ist eine Art Ersatzteillager für Itzik, und so sind sie ein perfektes Team.
Eine berührende Geschichte einer Familie, die alles daran setzt, ohne beschützenden Vater und Ehemann einen Weg zu finden, und jeder auf seine Art versucht, die Gemeinschaft in einem schwierigen Umfeld zusammen zu halten.
Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel
Myron, Vicki. Dewey und ich : die wahre Geschichte des berühmtesten Katers der Welt ; aus dem Amerik. von Nike Karen Müller. - München : Page & Turner, 2009.
(ISBN 978-3-442-20333-8)
Ein eiskalter Wintermorgen im Jahr 1988 in der kleinen Stadt Spencer im amerikanischen Mittelwesten. Die Bibliothekarin Vicki Myron leert wie jeden Morgen als erstes die Bücherbox, da hört sie seltsame Geräusche aus dem Behältnis. Eigentlich sollen dort ausgeliehene Bücher von aussen über eine Klappe zurückgegeben werden, wenn die Bibliothek geschlossen ist. Doch offensichtlich hat jemand diese Vorrichtung dazu genutzt, ein ungeliebtes Haustier loszuwerden. Die Autorin, Vicki Myron, findet ein etwa acht Wochen altes Kätzchen, abgemagert, verdreckt, halb erfroren. Der Kater überlebt die Strapazen knapp. Niemand findet sich, der das Tier aufnimmt, so wird der Kater von Vicki Myron und ihrem Bibliotheksteam adoptiert und bekommt den Namen Dewey. Als Nachname dichtet man ihm „Readmore Books“ (lies mehr Bücher) an. Unter diesem Namen wird Dewey weit über die Stadtgrenzen, ja sogar über die Grenzen der USA hinaus bekannt und berühmt. Die Website www.spencer-library.com zeugt davon. Besonders schön ist es zu erfahren, welche Reaktionen Dewey bei den Menschen hervorruft und dass er von der breiten Bevölkerung bald als selbstverständlich akzeptiert wird. Selbst Menschen mit Katzenhaar-Allergie kommen wegen der Grösse der Bibliothek weiter dorthin ohne Probleme zu haben. Die Anwesenheit des genügsamen und ruhigen Katers, der intuitiv zu spüren scheint, wer seinen Beistand braucht, verzaubert jeden. Er gewinnt Tag für Tag die Herzen der Menschen, eines nach dem anderen. Er übergeht nie jemanden oder hält die ihm entgegengebrachte Zuneigung für selbstverständlich. Jeder Bibliotheksbenutzer, der regelmässig kommt, spürt die einzigartige Bindung, die zu Dewey besteht. Dewey geleitet Arbeitslose durch eine schwere Zeit, hilft älteren Menschen beim Trauern um einen geliebten Partner oder mindert ihre Einsamkeit. Dewey zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er etwas Besonderes tut, sondern dadurch, dass er etwas Besonderes ist. Er gehört zu den scheinbar gewöhnlichen Wesen, die, wenn man sie richtig kennen lernt, sich gegen die Menge abheben.
Die folgenden Sätze von Vicky Myron sind ganz in meinem Sinne und verdienen, vor allem auf Menschen bezogen, Beachtung: „Diese Wesen sind diejenigen, die keinen einzigen Arbeitstag versäumen, die nicht jammern, die nie mehr als ihren Anteil verlangen. Sie sind Bibliothekare, Autoverkäufer und Kellnerinnen, die grundsätzlich einen ausgezeichneten Service bieten, die mit Leib und Seele bei der Sache sind, weil sie ihren Job lieben. Sie kennen ihre Aufgabe im Leben, und sie erfüllen sie über die Massen gut. Einige erhalten dafür Preise, andere machen das grosse Geld, die meisten werden als selbstverständlich hingenommen, die Verkäuferinnen, die Bankkassierer, die Mütter. Die Welt neigt dazu, die Ungewöhnlichen und die Lauten, die Reichen und die Eigennützigen wahrzunehmen und nicht diejenigen, die jeden Tag gewöhnliche Dinge aussergewöhnlich gut machen.“
Vicky Myron, hat zusammen mit dem Sachbuchautor Bret Witter die Geschichte des wundersamen Katers aufgeschrieben, den sie 19 Jahre lang, von 1988 bis zu seinem Tod 2006 in der Bibliothek von Spencer liebevoll versorgt hat. Geschickt lässt sie auch historisches Material einfliessen über die Stadt- und Bibliotheksentwicklung in dieser Zeit; erzählt von den Lebensbedingungen der Menschen aus dieser Gegend von Iowa. Myron ist keine professionelle Autorin, aber dass sie wahrheitsgetreu berichtet und dabei ihre Gefühle offen legt, nimmt man ihr ab. Problematisch wird es, wenn sie behauptet, der Kater engagiere sich für die Bibliothek, er liebe die Menschen, liebe gar die Stadt Spencer. Dass er ihr und anderen viel gegeben hat, ist sicher unbestritten. Doch dass dies, wie sie nahe legt, bewusst geschah, gehört ins Reich menschlicher Wunschvorstellungen.
Dennoch: eine unterhaltende und zärtliche Geschichte über die geheimnisvolle und wunderbare Art, wie Tiere und Bibliotheken die Menschen bereichern.
Beatrice Fuchs, Volksbibliothek Appenzell
Birkegaard, Mikkel. Die Bibliothek der Schatten : Roman ; ins Deutsche übertragen von Günther Frauenlob und Maike Dörries. - München : Page & Turner, 2010.
(ISBN 978-3-442-20362-8)
oder als PeP eBook
(ISBN 978-3-641-04225-7)
Lesen ist gefährlich
Hatten wir das nicht schon mal? Aber nein, denn diesmal ist nicht Bollmanns entzückender Bildband über die lesenden Frauen gemeint, sondern der handfeste Verschwörungs- und Fantasythriller von Mikkel Birkegaard.
Luca Campellis Wunsch, umgeben von seinen geliebten Büchern zu sterben, ging an einem späten Oktoberabend in Erfüllung. Mit dieser lakonischen Feststellung beginnt Birkegaards Roman ‹Die Bibliothek der Schatten›. Jon, Lucas Sohn, erbt das Antiquariat und soll den Laden ‹Libri di Luca› in Kopenhagen der Familientradition entsprechend weiterführen. Was dem erfolgreichen Rechtsanwalt und Yuppie nicht sonderlich behagt, denn seit dem Tod seiner Mutter vermied er jeden Kontakt zum Vater und dem Antiquariat. Erst als es zu einem Brandanschlag auf das kleine Antiquariat kommt, kann sich Jon den mysteriösen Vorgängen nicht länger verschliessen. Seltsame Besucher bevölkern die bibliophile Szene. Leser (Lettori oder Sender) streiten sich mit Hörern (Empfängern). Das Bücherlesen wird zur Übeltat, zum Verhängnis.
"Lesen kann sehr störend sein, ja richtiggehend gefährlich" beklagt sich denn einer der Empfänger. "Die ganzen Worte und Sätze würden wie Schneeflocken in einem Sturm durch die Luft wirbeln ... sich mischen ... verhaken ... die schönsten Gedichte, die besten Romane oder irgendein Scheiss, den sie gerade lesen, drängen heraus und verpesten die Luft." Doch was die Sender sonst noch durch ihr hemmungsloses Lesen anstellen, sei hier nicht preisgegeben. Auch nicht, was die Empfänger anrichten. Nur so viel: Mord, Verrat, Verschwörung, Geheimgesellschaften und Bösewichte, aber auch eine Liebesgeschichte sind das Rüstzeug jeden Thrillers - bestechend das Gedankengebäude, das Birkegaard entwirft! Der Autor bedient sich der Stilmittel eines Krimis, indem er detailgenau Dinge, Abläufe und Personen beschreibt und so den Leser zum Mitermittler und Komplizen macht, ihn am Scheitern und am Erkennen teilhaben lässt. Die gekonnte Mischung aus Kulturgeschichte und Politik, Literatur und Wissenschaft mit einer Prise Fantasy lassen erahnen, dass sich der spannende Stoff zum Verfilmen eignet.
Und uns, Leserinnen und Leser, trifft der Autor mitten ins Herz, uns, die bis anhin genussvoll lasen. Die ungekümmert und lustvoll in eine Geschichte eintauchten. Die ahnungslos einer Lieblingsbeschäftigung frönten.
‹Die Bibliothek der Schatten› ist Mikkel Birkegaards Erstling. Der Autor, geboren 1968, lebt in Kopenhagen und arbeitet als IT-Entwickler.
Doris Ueberschlag, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
Busfield, Andrea. Mauertänzer : Roman ; übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann. - Zürich : Atrium Verlag, 2009.
(ISBN 978-3-85535-043-8)
„Ich heisse Fawad, und meine Mutter sagt, ich bin im Schatten des Taliban geboren“. Fawad, der 11jährige afghanische Junge, führt uns die Zerrissenheit des gegenwärtigen Afghanistans vor Augen. Für Fawad ist es sein Land der Abenteuer, der Poesie und der Traditionen. Die Taliban sind von den Strassen Kabuls verschwunden, doch ihr brutales Regime wirft noch lange Schatten auf das Leben der Bewohner. Fawad wurde davon nicht verschont. Sein Vater und sein Bruder wurden brutal ermordet, seine Schwester entführt. Er und seine Mutter sind auf die Hilfe der Familie seiner Tante angewiesen. Der aufgeweckte, oftmals weise Junge lässt sich nicht unterkriegen, zumal er und seine Freunde sehr gut wissen, wie sie an die Devisen der Ausländer an der Chicken Street herankommen. Er schlägt sich mit den Problemen der Stadt herum und beginnt jeden Tag von neuem den Kampf um ein paar Dollar…
Fawad und wie er seine neue Welt sieht
Sein Leben erfährt eine Wende, als die Mutter eine Stelle als Haushälterin bei drei Ausländern annimmt und sie beide dort sogar eine kleine Wohnung mit TV bekommen. Für Fawad ist dieser Umzug ein Kulturschock. Plötzlich lebt er mit zwei Frauen und einem Mann zusammen, die rauchen, Alkohol trinken und sich teilweise halbnackt präsentieren. Diese Wohngemeinschaft sind Georgie, James und May. Georgie arbeitet für ein landwirtschaftliches Projekt, James ist Journalist und May ist vor allem Lesbe. Dieser Gruppe werden verschiedene afghanische Lebensweisen entgegengestellt. Da ist der Laden des blinden Pir Hederi, in dem wir die armen Afghanen kennen lernen. Dann gibt es die Welt des Haji Khan, dem einflussreichen Paschtunen, der sich in Georgie verliebt hat. Gerade die Liebesgeschichte zwischen Haji Khan und Georgie hält die verschiedenen Episoden des Romans zusammen. Sie besteht aus einem Hin und Her, weil die emanzipierte Georgie und der machohafte Haji Khan sich zwar lieben, aber nicht miteinander leben können.
Die Autorin
Melancholisch und doch voller Humor lässt sie Fawad in kindlich-naiver Weise aus seiner Welt erzählen und klärt so ganz nebenbei über das eine oder andere kulturelle Missverständnis auf. Lassen auch Sie sich von diesem kleinen Jungen verzaubern!
Andrea Busfield ist ein wunderbar optimistischer Roman gelungen, der nicht nur die Schattenseiten von Afghanistan aufzeigt. Es ist eine Abenteuer- und Liebesgeschichte zugleich, und das alles aus einer grossartigen Perspektive erzählt. Die Autorin hat selbst als Journalistin mehrere Jahre in Kabul gelebt und versucht, in ihrem Roman ein Gespür für das Geschehen in diesem Land zu vermitteln, das den meisten nur durch Katastrophenmeldungen in den Nachrichten bekannt ist. Mit ihrem Roman ist ihr eine bewegende Liebeserklärung an Afghanistan – dem Land zwischen Tradition und Moderne - gelungen.
Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen
Huser, Isabella. Das Benefizium des Ettore Camelli : Roman. - Zürich : Bilgerverlag, 2009.
(ISBN 978-3-03762-000-7)
"Hinter ihm fällt die Glastür zu. Der junge Mann tritt wieder auf die regennasse Strasse, und seine Hand, als könne sie es nicht glauben, legt sich an die Brust, tastet. Er spürt das Papier, unzweifelhaft: der Fahrschein nach New York steckt in der Brusttasche. In ein paar Tagen wird ihn eine aus Seilen geflochtene Treppe schwankend vom Kontinent erlösen und auf ein Schiff führen, das ablegen wird nach Amerika. Und über das Nadelöhr einer winzigen, New York vorgelagerten Insel wird er eingelassen werden in die Neue Welt. Er wirft einen Blick zurück auf den freundlichen Verkäufer am Pult der Agentur, der ihn ansieht, aus traurigen Augen, wie zuvor, als der junge Mann ihm gegenübersass, Namen, Geburtsdatum, Wohnadresse, alles bestätigte, die Auswanderungsbewilligung vorlegte, die abgezählten Scheine übergab. Die Hand löst sich vom Stoff der Jacke über dem Papier, winkt, zaghaft."
Nach dem frohen Aufbruch in eine neue Zukunft, erleben wir Ettore im Roman gegen Ende des 1. Weltkrieges auf der Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft. Was ist passiert?
Bevor er 1902 nach Amerika fährt, kehrt er nochmals in sein Heimatdorf zu seinen Tanten zurück und entschliesst sich, den Krämerladen, der zu verkaufen ist, zu übernehmen. Somit kann er auch das Benefizium, das seit Generationen seiner Familie gehört, übernehmen. Davor wird er allerdings gewarnt, denn auf dem Gut lastete ein schwerer Fluch. Das Benefizium wurde von einer Urahnin gestiftet, um mittellosen Priestern aus der Familie Camelli ein Einkommen zu sichern.
Der zweite Erzählstrang ist die Geschichte der Journalistin Heather Hughan, die in New York lebt, sich im Frühjahr 2004 für ein Sabbatical in Venedig entscheidet und dort, beim Besuch des Friedhofes auf der Insel San Michele, ihrer eigenen Geschichte auf die Spur kommt. Ein fliegendes Gefährt auf einem Grabstein, unter dem in ergreifender Schlichtheit „In Amore“ steht, erinnert sie an eine ebensolche Skulptur, die bei ihr zu Hause steht und von ihrem Grossvater Ted stammen soll. Was verbindet ihr Gefährt, das sie in New York stehen hat, mit dem Relief auf dem Grabstein in Venedig? Die Suche nach dem Zusammenhang führt sie in die raue Welt des Trentino. Sie fährt nach Versano und so mitten in die Geschichte der Camelli hinein und kommt so langsam dahinter, wie ihr Grossvater Ted Hughan, und somit auch sie selbst mit der Familie Camelli verbunden ist. Auch erfährt sie von der Tragödie des Benefiziums und welcher Fluch darauf lastet. So verweben sich die zwei Erzählstränge sachte miteinander. Da die erzählerische Entwicklung der Familiengeschichte „Camelli“, über zehn Generationen hin- und her hüpft, ist der Stammbaum am Ende des Buches manchmal hilfreich.
"Das Benefizium des Ettore Camelli" ist das faszinierende Romandébut von Isabella Huser. Die Autorin wurde 1958 geboren und wuchs als Tochter italienisch-schweizerischer Eltern in Zürich auf. Sie studierte Übersetzung und Terminologie, arbeitete als Dolmetscherin in Mailand und Vevey und am Filmfestival in Lugano als Generalsekretärin. Neben ihrer Tätigkeit als Übersetzerin im Fachbereich Recht und Finanzwirtschaft, hat sie auch vielbeachtete Dokumentarfilme produziert. „Epoca - The Making of History“ bei dem sie Coautorin war, wurde am Filmfestival Berlin uraufgeführt.
Lucette Winzeler, Bibliothek Stein
Mingels, Annette. Tontauben : Roman. - Köln : DuMont Buchverlag,2009.
(ISBN 978-3-8321-9611-0)
Danach
Annette Mingels beschreibt in ihrem neusten Buch "Tontauben" den Umgang mit Verlust, Schuld, Trauer und die über alles stehende Liebe. Sehr einfühlsam erzählt sie im ersten Teil "Danach" wie David und Anne den tragischen Verlust ihrer erst dreizehnjährigen Tochter Yola zu verarbeiten versuchen. Ihre Ehe droht am niemals endenden Schmerz und an den Gedanken, die sich nicht abstellen lassen, zu zerbrechen. Auf sehr unterschiedliche Weise versuchen sie ihren Alltag trotzdem zu bewältigen. Während David sein Leben ohne Veränderung, so normal als möglich, weiterlebt, sucht Anne nach anderen Inhalten. Auf dem Weg ihrer Neuorientierung lernt sie in ihrem Psychologen einen Menschen kennen, der sie als Frau und nicht als trauernde Mutter wahrnimmt, und geht mit ihm ein Verhältnis ein.
Davor
Zeitlich ungefähr ein Jahr früher beschreibt Annette Mingels im zweiten Teil "Davor" wie sich Frank und Esther, beide verheiratet, rein zufällig während eines Kongresses kennenlernen. Aus der anfänglichen Skepsis füreinander entwickelt sich eine Beziehung, welche zwischen Skrupel und dem wunderbaren Gefühl der neuen Leidenschaft hin und hergerissen ist. Als der Kongress zu Ende ist, bleiben die beiden Liebenden noch ein Wochenende länger. Mit einem Telefonanruf informiert Esther ihren Mann, dass sie noch ein paar Tage Ruhe brauche. Dieser unterstützt ihre Idee und stimmt ihr sofort zu, sie solle doch ruhig ein paar Urlaubstage anhängen. Er würde ja auch gerne kommen, könne aber leider seine Praxis nicht schliessen. Nach diesem Gespräch hatte Esther das Gefühl ihren Mann noch nie zuvor so sehr geliebt zu haben. "Und wenn er untreu war? Wenn er froh war, dass sie länger fortblieb? Vielleicht war das der Preis, den sie bezahlen musste für diese Affäre: dass sie mit dem Vertrauen in sich auch das in ihn verlor. Was wenn es am Ende nur Verlierer gäbe…. ." Auch hier sind Schuld und Liebe die zentralen Themen, die Annette Mingels mit einer wunderbaren Wortwahl kühl, sachlich, aber äusserst präzise und treffend formuliert.
Am Schluss lässt sie mit viel Geschick die beiden Geschichten zusammenlaufen und fügt sie zu einem Ganzen. Der Moment, indem sich die beiden Erzählungen auf einen gemeinsamen Punkt zubewegen, ist einer der besten des ganzen Buches.
Wie Annette Mingels von Lebensträumen, den Selbstvorwürfen, der Sinnsuche und ihren kleinen Grausamkeiten erzählt, das ist hohe sprachliche und psychologische Kunst, deren Werkzeug sie sich während dem Studium der Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg aneignete. Sie wurde 1971 in Köln geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Montclair/USA.
Eine letzte Frage bleibt
Was will Annette Mingels mit ihrem Titel Tontauben aussagen? Nur einmal am Anfang des ersten Erzählstrangs macht sie im Buch eine Verknüpfung zum Titel. "Eine Tonscheibe wird in die Luft katapultiert und der Mann schiesst. Anne kann nicht erkennen, ob er getroffen hat. Müsste sie nicht die Scherben sehen?" Müsste man im Leben nicht auch viel mehr sehen? Aber ist dies ohne erkennen überhaupt möglich? Annette Mingels wertet nicht, sie lässt den Leser fassungslos zurück und die Frage nach der Schuld stellt sich einem noch lange nachdem man das Buch schon gelesen hat.
Karin Sutter, Bibliothek Teufen
Härtling, Peter. Paul das Hauskind : Jugendbuch. - Weinheim Basel : Beltz & Gelberg 2010.
(ISBN 978-3-407-79977-7)
Einen etwas merkwürdigen Eindruck macht das Buch schon! Der Autor ist bekannt. „Ben liebt Anna“, „Krücke“, „Tante Tilli macht Theater“ oder „Reise gegen den Wind“ haben wir längst gelesen, Peter Härtling ist uns Leseratten ein Begriff. Der Titel ist wie mit einer alten Schreibmaschine oder vielleicht doch mit dem Aquarellpinsel geschrieben? Im Zentrum des Umschlags steht ein seltsames, aber spannendes Haus, rosa! Davor ein etwas blasser, leicht verunsichert lächelnder Junge.
„Paul das Hauskind“. Was ist ein Hauskind?
Jetzt schlägt man das Buch auf und findet als erstes nochmal das Bild des Hauses. Diesmal ist jede Wohnung beschriftet, von Hand in schiefen und krummen Druckbuchstaben: Namen der Bewohner, ab und zu ein passender Spitzname, ihr Beruf. Zehn Partien in einem vierstöckigen Haus plus Dachgeschoss.
Dr. Adam Schwarzhaupt, der Anwalt im Ruhestand; die Inhaber eines Geschäftes für Brautmoden; ein Oberstudienrat und eine Sozialarbeiterin; ein Gewürzhändler; ein Taxifahrer; Oma Käthe, die ehemalige Schneiderin und schliesslich ganz oben die Beerbachs, Paul und seine Eltern, ein Werbefachmann und eine Journalistin. Eine gemischte, etwas illustere Gesellschaft, in der es auch hin und wieder ordentlich kracht, etwa wenn der Kater der Brautmoden mal wieder seine Duftmarken im Treppenhaus hinterlässt. Noch ist die Frage: Was ist ein Hauskind? nicht beantwortet. Eine andere Frage ist ob „Paul das Hauskind“ überhaupt ein Kinderbuch ist? Ja, ein Kinderbuch insofern, als Kinder es verstehen können, Kinder vor allem, die für Probleme des gestörten Familienlebens und Alleingelassenwerdens sensibilisiert sind. Sie finden in den Auswegen, die dieses Buch bietet, vielleicht so etwas wie Trost, in jedem Fall Verständnis. Vielmehr ist es aber ein Buch, das sich an die Erwachsenen wendet, die Erwachsenen mit Kindern, die sie im Stich lassen ohne die Schäden zu ahnen, die sie in den Kinderseelen hinterlassen.
Peter Härtlings Buch ist ein Meisterwerk, das mit so leisen Worten daher kommt, dass man sie überhören mag, vor allem, weil sie unbequem sind. Ein Buch, in dem das Thema Menschlichkeit aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu einer ergreifenden Geschichte verwoben ist. Hier wird keiner verurteilt, weder die Mutter, die die Familie allein lässt, noch der Vater, der dem Druck des Berufs und der alleinigen Verantwortung gegenüber dem Sohn nicht gerecht wird und an der Seele erkrankt.
Paul, aus dessen Sicht wir von der Ereignissen erfahren, vermittelt herzergreifend seine Hilflosigkeit und Einsamkeit, seine Wut, seine Scham und seine Angst, seine Hoffnungen, seine Träume, die fast alle unerfüllt bleiben. Ist es das, was Erwachsenwerden ausmacht? Abschied nehmen von den kindlichen Hoffnungen und Wünschen und die Traurigkeit als Teil des Lebens akzeptieren?
Es wäre ein deprimierendes Buch, wäre Paul nicht eben das Hauskind, neben Helena das einzige Kind im Haus. Ein Hauskind, das weckt Erinnerungen an ein Haustier, das man hält und für das man nur begrenzt verantwortlich ist, das man abgeben kann, wenn es lästig wird oder nicht mehr ins Leben passt. Ein bisschen ist es auch mit Paul so. Seine Mutter ist in New York und bald steht fest, dass sie nicht zurückkommt. Die Eltern werden sich scheiden lassen, der Vater ist beruflich tage- und wochenlang unterwegs, und Paul wird allein sein. Nicht ganz allein, denn Oma Käthe versorgt ihn, was ihm zunehmend gefällt, aber Oma Käthe kommt ins Spital und Paul ist wieder allein. Jetzt beginnt für Paul eine Odyssee durch das Haus. Jeder will ihm etwas Gutes tun und bietet ihm ein Zuhause – auf Zeit. Denn der eine muss beruflich wegfahren, da beginnen die Ferien im Ausland, dort ist das Gästezimmer anderweitig belegt. Paul wird hin und her geschoben. Gut hat er Dr. Adam, einen ruhenden Pol, der ihm hilft mit seinen Gefühlen umzugehen.
Ja, so wie das Haustier sich anpassen muss, so muss auch das Hauskind manche Eigenheit aufgeben, andere akzeptieren und lernen, sich ständig auf eine von anderen Menschen abhängige Lebensweise ein- und umzustellen. Unmerklich ändert sich im Laufe der Ereignisse die Bedeutung des Begriffs Hauskind. Paul wird zwar immer noch herumgereicht, aber er ist nicht mehr heimatlos. Das Haus ist das Zuhause und Paul wird ein Teil davon.
Ein sehr nachdenklich stimmendes Buch, bei dem man Pauls Gefühle teilt und mit ihm manchmal um sich schlagen und manchmal mit ihm laut singen möchte. Grossartig!
Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
Alain-Fournier, Henri. Der grosse Meaulnes. - Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 2003.
(ISBN: 3-518-39998-5) Weitere Ausgaben sind zur Zeit bei Manesse und Thiele erhältlich.
„Sie haben Le Grand Meaulnes nicht gelesen? Das Buch ist wunderbar.“ (Umberto Eco in: Die grosse Zukunft des Buches)
Tatsächlich ist dieses Buch von Alain-Fournier (eigentlich Henri-Alban Fournier) zauberhaft und wunderbar. Seit ich es vor fünf Jahren zum ersten Mal gelesen habe, hat mich diese magische Geschichte um eine zarte und letztendlich tragische Liebe nicht mehr losgelassen. Wenn man die Zeilen liest, fühlt man sich in eine längst vergangene Zeit versetzt, eine Zeit an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Aber auch die eigene Jugend wird mit äusserst lebendigen Bildern heraufbeschworen. Eine Vergangenheit, in der man voller Neugier auf der Suche nach einer eigenen Identität war, Zeiten der ersten grossen Sehnsüchte und Liebe. „Le Grand Meaulnes“ ist eines jener kostbaren Bücher, das derart geschrieben ist, dass man sich den ganzen Tag auf den Feierabend freut, um erneut in die faszinierende Handlung einzutauchen.
Ende des 19. Jahrhunderts taucht der 17-jährige Augustin Meaulnes in dem französischen Provinzdorf Saint-Agathe auf, um dort die Schule zu besuchen. Der neue Schüler wird vor allem für den wohlbehüteten Lehrersohn Francois Seurel zum grossen Vorbild, ja geradezu zur Leitfigur. Zwischen den beiden entwickelt sich eine wunderbare Freundschaft. Eines Tages jedoch verirrt sich Meaulnes alleine auf einer Kutschenfahrt und gerät in immer unwegsameres Gelände. Pferd und Wagen zurücklassend irrt er durch ein riesiges und völlig unbekanntes Waldgebiet, stösst dabei jedoch unverhofft auf ein kleines Schlösschen, auf welchem soeben eine Hochzeitsfeier stattfindet. Meaulnes mischt sich spontan unter die Gäste und lernt dabei die Schwester des Bräutigams, Yvonne de Galais, kennen. Die beiden verlieben sich sofort ineinander. Beim allgemeinen Aufbruch am Ende des Festes wird Meaulnes von anderen Gästen mitgenommen, schläft jedoch in der Kutsche ein und wird am nächsten Morgen schlaftrunken auf einer Landstrasse abgesetzt. Schliesslich erreicht er auf Umwegen wieder Saint-Agathe. In den folgenden Wochen versucht Meaulnes verzweifelt, den Weg zu Yvonnes Schloss zu rekonstruieren. Die Suche nach dem verlorenen Pfad, und damit zurück zu Yvonne, gestaltet sich jedoch weitaus schwieriger und geheimnisvoller als erwartet. Als es schliesslich dennoch zum ersehnten Wiedersehen zwischen Yvonne und Meaulnes kommt, geschieht etwas Unerwartetes… Es dauert beinahe vier Jahre, bis Francois auf dem Dachboden die Tagebuchaufzeichnungen von Augustin Meaulnes entdeckt, und damit schliesslich das ganze Geheimnis auflösen kann.
Die Geschichte, die Alain-Fournier 1913 geschrieben hatte, trug deutlich autobiographische Züge. Begegnete er doch einige Jahre zuvor im tatsächlichen Leben Yvonne de Quièvrecourt, einer ungewöhnlich schönen jungen Frau, die er dann aber aus den Augen verloren hatte und dennoch jahrelang liebte. Diese unerfüllte Liebe verarbeitete Alain-Fournier in seinem ersten und leider auch einzigen fertiggestellten Roman. Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Alain-Fournier eingezogen und fiel am 22. September desselben Jahres südlich von Verdun. Der tragische Tod des erst 28-jährigen Autors mochte nicht ganz unbeteiligt am Ruhm des „Grossen Meaulnes“ gewesen sein. Der Roman wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation und schliesslich zweimal verfilmt.
Gerold Ebneter, Kantonsschulmediathek Trogen
Kurkow, Andrej. Der Milchmann in der Nacht. Roman ; übersetzt von Sabine Grebing. - Zürich : Diogenes, 2009.
(ISBN 978-3-257-06727-9) Auch als Taschenbuch erhältlich.
Ist dies nun ein Liebesroman, ein Krimi, eine schwarze Komödie oder Politsatire? Andrej Kurkow schafft alles in einem. Er erzählt parallel von drei jungen Paaren, deren Schicksale die Absonderlichkeiten in ihrem Heimatland Ukraine widerspiegeln.
Gefragte Muttermilch
Da ist einmal Irina aus dem Dorf Lipowka, die jeden Morgen kurz nach vier Uhr aufsteht, die Fertigmilchmischung für ihr kleines Töchterchen anrührt und bei Eiseskälte eine Stunde mit Bus und U-Bahn nach Kiew fährt, um sich für Geld ihre Milch abpumpen zu lassen. Anders als sie meint, ist die Milch nicht für ein Kind reicher Eltern bestimmt sondern als Wundermittel für einen Parlamentarier. Als sie sich verliebt und nicht mehr länger Amme sein will, schickt der Abgeordnete seine „Leute“, um sie unter Druck zu setzen.
Ein Personenschützer lässt sich selber observieren
Parallel erzählt der Autor vom Personenschützer Semjon, der nachts als Schlafwandler durch die Strassen Kiews geistert. Hat er etwas mit dem Mord am Apotheker zu tun? Veronika läuft es eiskalt den Rücken hinunter, als sie Blut an seinem Hemd findet. Doch lieber findet sie sich mit der Vorstellung ab, dass ihr Ehemann nach zwölf gemeinsamen Jahren eine Affäre mit einer andern Frau hat, als herauszufinden, dass er ein Mörder ist. Trost findet sie bei der Apothekerswitwe, die den Verstorbenen plastinieren lässt, um nicht allein zu sein. Geheimnisvoller Koffer
Die dritte Geschichte handelt von Dima und seiner Frau Walja. Unausgeschlafen und müde will Dima seine Schicht bei der Zollkontrolle beenden, als sein Schäferhund Schamil aufgeregt an einem schwarzen Koffer schnüffelt. Zwei Kollegen überreden ihn, die „Beute“ nicht an die Obrigkeit abzuliefern, sondern sie zu teilen. Die darin gefundenen Ampullen lassen die drei Männer vom Kater Murik testen, der daraufhin verschwindet. Mit dem gestohlenen Koffer handelt sich Dima eine ganze Kette von Problemen ein.
Meisterhafter Erzähler
Mit Ironie und schwarzem Humor erfindet Andrej Kurkow absurde Ereignisse so phantastisch, wie sie vielleicht nur in der Ukraine möglich sind. Als Kenner der kommunistischen und postkommunistischen Politik zeichnet er das Bild einer total verkommenen Gesellschaft, deren „Obere“ nur auf den persönlichen Vorteil aus sind. Seine Botschaft lautet: Traue niemandem, schon gar nicht den Volksvertretern, auch nicht dem netten Psychiater, der sich als Kopf einer Schattengesellschaft entpuppt.
Trotz aller Absurditäten kommt nie das Gefühl auf, dass man es mit albernen Karikaturen zu tun hat. Grossartig und liebevoll charakterisiert Kurkow seine Figuren mit ihren Schwächen und Geheimnissen, so dass sie einem richtig nahe kommen. Ein Lesevergnügen erster Güte! Der Autor ist 1961 in Petersburg geboren und lebt seit seiner Kindheit in Kiew (mit Zweitwohnsitz in London). Er studierte Fremdsprachen (spricht selber elf Sprachen), arbeitete als Kameramann, Journalist und Herausgeber einer Zeitung und schrieb zahlreiche Romane, Kinderbücher und mehrere Drehbücher. Mit „Picknick auf dem Eis“ wurde er im deutschsprachigen Raum berühmt. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet nebenbei für Radio und Fernsehen. Ins Deutsche übersetzt wurde der Roman von Sabine Grebing.
Elisabeth Siller, Bibliothek Herisau
Storz, Claudia. Federleichter Viertelmond : Gedichte und Miniaturen aus einem halben Leben ; mit Zeichnungen nach Regelvorgaben der Rangoli (Bodenbilder). - Bern : eFeF, 2005.
(ISBN 798-3-905561-65-4)
Bach und Fluss der Ostschweiz im Gedicht
Einverstanden, fällig wäre – unter solchem Titel und in dieser Zeitung – ein Reimpaar wie "Dort mit gold'nem Lichtgezitter / Schlängelt sich die klare Sitter" (Adolf Stöber, 1850). So gleichermassen künstliche wie behagliche Texte zu Appenzeller Wasserläufen sind aber nicht häufig; Bach und Fluss machen beliebteren Sujets wie Berg und See selten Konkurrenz. Kommen auch gegen Inseln (dort, wo's hat) nicht an. Lassen dem dichterischen Lob der Gipfel und Grate den Vortritt, dem poetischen Preis der Seelandschaften und ihrer Eilande (Mainau / Ufenau / Insel Werd / Isole Borromee / Reichenau / St. Petersinsel). Es hat mich vor vierzig Jahren erstaunt, bei Gottfried Keller Gedichte über den Vorderrhein und die Via mala zu finden. Noch weniger erwartet habe ich jedoch vor fünf Jahren die Gedichte mit den Themen "Tamina" und "Junger Rhein". Sie stammen von der Aargauer Erzählerin Claudia Storz; geradezu verblüffen könnte einen ihr Selbstporträt mit der Überschrift "Rotkäppchen an der Quelle Tamina". Korb, Käppchen, Wein, Wolf – fast alles ist darin; allenfalls die Grossmutter und ein Kuchen fehlen. Als Jägersmann darf man zuguterletzt Rilke oder Paracelsus küren, ganz nach Vorzug. Claudia Storz (die Autorin, die im Gedicht "ein rot Käppchen auf hat") ist 1948 in Zürich geboren, hat knapp 30-jährig zu publizieren begonnen, mehrere Bücher erfolgreich auf den Markt und auch ins Gespräch gebracht. Erst vor wenigen Jahren hat sie Dichterisches bzw. Miniaturen veröffentlicht: unter dem schönen Titel "Federleichter Viertelmond". In dieser Sammlung, herausgebracht vom eFeF-Verlag, liest man mehrere "Aare"-Gedichte, ein "Seine"-, ein "Maggia"- und ein "Tejo"-Gedicht, liest dies über ein Fliesswasser in Paris, jenes über einen Bach in London, manches über Wasserfälle in Südamerika, Flüsse in Spanien, endlich die Donau (Storz heisst sie "einen grünen Wurm / zwischen weissen Kieseln"). Erwähnenswert sind gewiss auch Storz' See- und Insel-Texte (Hallwilersee, Golzernsee; Elba), daneben weitere Wasserfall-Texte. Aber näher gehen einem hierzulande die ganz wenigen Mundartgedichte: eines über Ròòtschlääg und Vòòrschlääg, ein anderes über Glückspilze und Pechmarien. Intrigant, dass in der hiermit empfohlenen Sammlung ein Text "Die Kindermuschel" erscheint, der 1987 in Schmidt-Cadalberts/Trabers Mundart-Anthologie noch in Dialekt vorgelegen hat: "Chindermuschle". Wer imstand ist, die beiden Fassungen zu vergleichen, findet eine Teilantwort auf die merkwürdige Diskussion, ob man momentan bzw. künftig in Kindergärten der deutschsprachigen Schweiz dann und wann Mundart oder eben nur Mundart oder, im Gegensatz dazu, ausschliesslich Schriftsprache reden solle (genau genommen: die Sprache des Bilderbuchs, der Television, der Spiele und Games). Eine Antwort, die man – auch die Bildungspolitiker, so sie lesen – seit Jahrzehnten in doppelsprachig vorgelegter Schöner Literatur abholen könnte, z. B. in Kuno Raebers sowohl "hochdeutschen" als auch "Luzerner alemannischen" Texten.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute
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