Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Oksanen, Sofi. Fegefeuer ; aus dem Finnischen von Angela Plöger. - Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2010.
(ISBN 978-3-462-04234-4)
Die vom Leben gebeutelte, enttäuschte und desillusionierte Aliide Tru findet 1992, ein Jahr nach der Befreiung Estlands aus den Fängen der Sowjetunion, im Garten ihres Bauernhauses die halbtote Zara - zufällig, wie sie zuerst glaubt. Das malträtierte Mädchen ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zur Prostitution gezwungen haben und ihr nun dicht auf den Fersen sind. Zara sucht an diesem verlassenen Ort keineswegs zufällig Zuflucht, denn die Bäuerin Aliide ist die Schwester ihrer Grossmutter. Trotz tiefem Misstrauen nimmt die harte Aliide das Mädchen in ihr Haus auf und pflegt es. An diesem Startpunkt schliesst sich zugleich der Handlungsbogen, der im Jahre 1936 in diesem Gehöft begann und Estland, Wladiwostok, Berlin und schliesslich wieder Estland umspannt. Fünf Jahrzehnte des Kriegs, der Verwüstungen, des Nationalsozialismus und des Kommunismus sind vergangen.
Zwei ungewöhnliche Schicksale
Zaghaft und argwöhnisch begegnen sich die zwei ungleichen Frauen. Beide haben unter Despotismus, Demütigung und Ausbeutung gelitten: Zara als Kind einer durch Krieg traumatisierten und deportierten Mutter und später als Prostituierte; Aliide durch die Qualen von Verhören, Vergewaltigung und Folter, die sie während der kommunistischen Besetzung wegen Unterstützung ihres geliebten Schwagers, einem Widerstandskämpfer, erleiden musste. Die Bäuerin hat jedoch selbst Schuld auf sich geladen, als sie die eigene Schwester Ingel und deren Tochter Linda - die Mutter Zaras - verriet und sie damit der Deportation nach Sibirien auslieferte. Ihre Schwester, schön, anmutig, strahlend und durch das Schicksal begünstigt bekam den Mann, den Aliide leidenschaftlich für sich begehrte. Ingel und Aliide sind verstrickt in ewiger Konkurrenz um Liebe, Männer, das Erbe. Das Gehöft trägt Spuren des Schreckens. In einer verborgenen Kammer wurde nämlich Ingels Mann Hans über Jahre versteckt.
Oksanens Sprache
Der Roman heisst auf Estnisch "Pudhistus", was Reinigung bedeutet und so auf die stalinistischen Exzesse anspielt. Die Sprache Oksanens tastet sich über das Unaussprechliche hinweg. Die gefolterten Seelen der Frauen versuchen auszuweichen, zu verdrängen, weil sie sonst den Schmerz und die Demütigung nicht ertragen könnten. Doch das Erlittene, Unsagbare ist tief eingegraben im Körper der Geschundenen. Die Autorin arbeitet mit verschiedenen Textsorten. Sie fügt unterschiedliche Erzählperspektiven, Tagebuch-Ausschnitte und Auszüge aus KGB-Akten unerbittlich zu einem Puzzle zusammen, und nach und nach wird dem Leser das Ausmass des Verhängnisses klar.
Adressaten
Dies ist kein Frauenroman, auch wenn zwei Frauen verschiedener Generationen sich begegnen und unsägliches Leid durch Männer erfahren haben. Abgründe des Grauens, des Verrats, Sadismus und Grausamkeit finden sich geschlechterunabhängig in vielen Herzen. Obwohl auch Aliide und Zara Hass und Verderben in sich tragen, sind sie doch fähig zur Läuterung und Umkehr. Oksanen ist mit Fegefeuer ein beeindruckender Wurf gelungen. Sie konfrontiert die Leser mit den beschämenden historischen Fakten zur Geschichte des estnischen Volkes, das jahrzehntelang unbeschreibliche Demütigungen erfuhr. Sie schreibt über Geschichte aus der Perspektive der Erleidenden, was den Leser berührt, beschämt und betroffen zurücklässt.
Cornelia Schmidli, Bibliothek Schwellbrunn
Gier, Kerstin. In Wahrheit wird viel mehr gelogen. - Bergisch Gladbach : Edition Lübbe, 2009.
(ISBN 978-3-7857-6014-7) Taschenbuchausg. 2011. (ISBN 978-3-404-16552-0) Auch als Hörbuch (978-3-7857-4185-6)
Die Welt ist voller Idioten
Carolin fühlt sich nach dem Tod ihres Mannes von Idioten umzingelt. Nicht verwunderlich. Denn mit sechsundzwanzig hat sie bereits zwei abgeschlossene Studien, spielt mehrere Instrumente und spricht fünf Sprachen – darunter Polnisch und Koreanisch. Einer dieser Idioten ist ihr spiessiger Ex – Freund mit dem sie sich um das nicht gerade kleine Erbe streiten muss. Und auch dessen geldgieriger Onkel will seinen Anteil daran haben. Kein Wunder, dass sich Carolin zum ersten Mal in ihrem Leben betrinkt und ein kleines Vermögen für Schuhe ausgibt. Unterstützung erhält Carolin von ihrer Schwester, die sie bei ihr wohnen lässt und sie zu einer Therapeutin schickt. Die für Carolin jedoch auch zu den Idioten zählt. Doch nicht nur ihre Schwester macht sich Sorgen. Auch ein hilfsbereiter Apotheker und ein ausgestopfter Foxterrier mit dem Namen „Nummer zweihundertdreiundvierzig“ stehen Carolin bei und helfen ihr bei einem Neuanfang.
Ein weiteres Meisterwerk
Kerstin Gier wurde 1966 geboren und studierte zunächst Germanistik, Musikwissenschaften und Anglistik, bevor sie zur Betriebspädagogik und Kommunikationspsychologie wechselte und als Diplompädagogin abschloss. Nach mehreren Jobs begann sie 1995 Frauenromane zu schreiben. Auch ihr neuestes Werk ist vor allem an Frauen gerichtet und lädt die Leser zum Lachen, Weinen und Nachdenken ein. Aber auch Männer sollten keinen Bogen um das Buch machen, da es ein weiterer Versuch ist, die Psyche einer Frau auf die etwas andere Art zu erklären.
Kerstin Gier wohnt mit ihrem Mann und Sohn in einem Dorf in der Nähe von Bergisch Gladbach. Ihr erstes Buch "Männer und andere Katastrophen" (1996) wurde mit Heike Makatsch in der Hauptrolle verfilmt und mit der dreibändigen Reihe über die Abenteuer von Gwendolyn und Gideon in London (Rubinrot, Saphirblau und Smaragdgrün) verfasste sie erstmals einen Jugend- und Fantasyroman.
Wie wahr
Obwohl die Geschichte eher flach und ereignislos erscheint, überzeugt die Protagonistin mit ihrer direkten Ehrlichkeit und selbstironischen Gedanken. Trotz der nicht einfachen Situation, kann man der Witwe Carolin oftmals zustimmen und sich mit ihr identifizieren. Die einzelnen Kapitel starten jeweils mit einem Zitat oder einer Lebensweisheit, die teilweise eine ganz andere Bedeutung annehmen. Zu jeder Situation findet die Autorin eine Weisheit, die nach kleinen Anpassungen im Kapitel bewahrheitet wird. Alltägliche Situationen werden aus einem anderen Blickwinkel erfasst, was die Leserinnen und Leser zum Nachdenken über ganz gewöhnliche Dinge anregt.
Das Buch mit den skurrilen Figuren, Dialogen zum Schmunzeln und viel Witz und Charme ist die beste Ablenkung für langweilige Regentage oder eine lange Zugfahrt.
Annina Schönenberger, Volksbibliothek Appenzell
Greggio, Simonetta. Mit nackten Händen : Roman ; aus dem Franz. von Patricia Klobusiczky. - München : Diana Verlag, 2010.
(ISBN 978-3-453-29099-0) Auch als Taschenbuch erhältlich
Emma, etwas über 40, hat mit ihrem früheren Ich abgeschlossen. Paris und ihre grosse Liebe Raphaël sind Vergangenheit. Enttäuschung, Demütigung und Kummer sind einer grossen Erleichterung gewichen. Nun lebt sie allein und unabhängig als gestandene Tierärztin auf dem Land. Ihre Leidenschaft und den Respekt für Tiere hat sie während ihrer Lehrzeit bei ihrem alten Meister und Freund d‘Aurevilly entdeckt. Ihre Arbeitstage sind lang, kein Weg ist zu weit, keine Zeit zu spät, wenn sie von den Bauern gerufen wird.
Ende der Ruhe
Dann kommt Gio und nichts mehr wird sein wie früher. Gio, knapp 15-jährig, gross und schlaksig, ist der Sohn Raphaëls und ihrer früheren Freundin Micol. Er ist von zu Hause ausgerissen. Sie hat ihn als Dreijährigen zum letzten Mal gesehen. Seine unerwartete Ankunft lässt vergessen Geglaubtes jäh und schmerzhaft wieder aufleben.
Gio begleitet Emma bei der Arbeit und hilft, wo er kann. Seine wilde Überzeugung und sein Ehrgeiz rühren Emma und sie erkennt, wie ähnlich sie sich in Vielem sind. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Aus Gios anfänglichen, ungelenken Verführungsversuchen entsteht fast zwangsläufig eine zarte und ernste Liebesbeziehung. Die Entdeckung löst einen wahren Strudel von Anfeindungen und Ereignissen aus. Doch Emma hat sich bewusst für Gio entschieden und alle Konsequenzen getragen.
„Du kannst nicht alles verstehen und nicht alles beherrschen.“
Mit diesem Zitat tröstet d’Aurevilly Emma. In diesem bemerkenswerten Liebesroman geht es ums Überschreiten der Grenze. Muss man oder kann man denn von Schuld sprechen? Die Autorin, Simonetta Greggio, platziert den „Sündenfall“ gleich an den Anfang und setzt Episoden und Erinnerungen wie ein Puzzle zusammen. Sie schreibt sorgsam und beschränkt sich aufs Wesentliche. Vieles offenbart sich dem Leser, der Leserin zwischen den Zeilen. Greggio fasziniert vor allem mit der Gabe, ein kleines Buch (nur 155 Seiten) mit viel Inhalt zu füllen. In frischer, glasklarer Sprache schreibt sie über den Lauf der Dinge, die Liebe zu den Menschen, den Tieren und der Natur.
Simonetta Greggio ist 1961 in Padua geboren und lebt seit mehr als 20 Jahren in Frankreich. Als Journalistin und Autorin hat sie diverse Reportagen, Porträts, Gastrokritiken und Reiseführer verfasst und sechs Romane geschrieben. „Mit nackten Händen“ hat in Frankreich die Bestsellerliste erstürmt. Vom Französischen ins Deutsche übersetzt hat Patricia Klobusiczky, die in Deutschland Dozentin, Übersetzerin, Lektorin, Kritikerin und Herausgeberin ist.
Elisabeth Siller, Bibliothek Herisau
Federico, Carla. Jenseits von Feuerland : Roman. - München : Knaur, 2011.
(ISBN 978-3-426-50440-6)
Zur Autorin
Carla Federico ist das Pseudonym von Julia Kröhn, die 1975 in Linz (Österreich) geboren wurde. Sie studierte Theologie, Philosophie und Geschichte in Salzburg und arbeitet nach mehrjährigen Tätigkeiten, wie an der Universität in Salzburg, seit 2006 als Autorin und Fernsehjournalistin in Deutschland. Ihre ersten literarischen Gehversuche machte sie schon mit vierzehn Jahren, und nebst dem Schreiben war und ist das Reisen ihre grösste Leidenschaft. So packte sie die Geschichte der deutschen Auswanderer im 19. Jahrhundert in Chile während einer Urlaubsreise. Daraus entstand eine erste Geschichte in Im Land der Feuerblume und 2011 nun Jenseits von Feuerland.
In beiden Romanen geht es um das Schicksal deutscher Auswanderer, deren harter Alltag und Existenzkampf in einem Land am Ende der Welt. Die chilenische Regierung liess damals systematisch erfahrene Bauern und Handwerker aus Deutschland anwerben und dies aus gutem Grunde: sie sollten das bis dahin weitgehend menschenleere südchilenische Seengebiet bevölkern und quasi einen Puffer zum „Mapuche-Land“ (Ureinwohner Chiles) schaffen - quasi ein „Klein Deutschland“ um den Slanquihue-See. Beide Lektüren sind eine Familiensaga, miteinander verknüpft, und doch können sie auch einzeln gelesen werden.
Zum Roman
Im neuen Bestseller Jenseits von Feuerland kämpfen zwei Frauen in Punta Arenas, der südlichsten Stadt der Welt, um ihre Zukunft und ihre Freiheit - und um die Liebe: Emilia, die Tochter deutscher Auswanderer, flieht von zu Hause, um einem dunklen Familiengeheimnis zu entkommen. Die zurückhaltende Rita dagegen hat nur einen Wunsch: sie will von den Chilenen als Weisse anerkannt werden, denn sie ist die Tochter einer Weissen und eines „Mapuche“ und wird als Mischling brutal verfolgt. Hier im sturmgepeitschten Patagonien entscheidet sich das Schicksal der beiden Frauen. Die Handlung ist chronologisch geschrieben, in vier Bücher unterteilt und beginnt dramatisch mit Ritas Flucht. Am helllichten Tag wird die Mission von Soldaten überfallen, wobei Ritas Grossmutter und der Vater umkommen. Rita überlebt als einzige und rennt nun um ihr Leben. Bei Emilia erhält sie Unterschlupf, aber kurze Zeit später zwingt ein schreckliches Familiengeheimnis auch Emilia zur Flucht aus ihrer deutschen Siedlung. Nach vielen Umwegen und einer folgenreichen Begegnung mit Esteban stranden sie als Köchinnen in Ernestas Bordell in Punta Arenas. Im zweiten und dritten Buch finden beide zwar die Liebe ihres Lebens; aber Arthur, der Apotheker aus Hamburg, verschwindet nach einem Missverständnis wieder für Jahre, und Ritas Jéromino entpuppt sich als Komplize von Esteban. Estebans Mutter hat den beiden Frauen und Ritas Tochter Aurelia ihre Estancia im Norden von Punta Arenas geschenkt. Dort lassen sie sich nieder und züchten Schafe, das sogenannte „weisse Gold“ in Chile. 1891 begegnet Emilia erneut Arthur, folgt ihm nach Hamburg und muss sich mit der Cholera und Arthurs Ehefrau auseinandersetzen. Im vierten und letzten Buch wird Aurelia entführt, und Emilia kommt schwanger aus Hamburg nach Hause zurück. Dass Emilia wie Rita am Ende aber als Siegerinnen hervorgehen, lässt der Name des ungeborenen Kindes erahnen: Viktoria.
Jenseits von Feuerland ist ein siebenhundertseitiger Roman, prall an Hoffnung, Liebe, Enttäuschung und Neid. Dies alles am Ende der Welt und hinter der überschaubaren Schilderung vom alltäglichen Leben auf einer patagonischen Estancia. Ebenso faszinierend ihre Beschreibung über die Kultur der Mapuche. Die Figuren sind authentisch und die Liebe von Emilia und Arthur geht ans Herz. Eine fabelhafte Familiensaga, Abenteuer- und Liebesroman. Man darf auf die Fortsetzung gespannt sein.
Carolin Kugler, Bibliothek Wolfhalden
Filser, Hubert. Das erste Mal : das erste Werkzeug, die erste Musik, das erste Bier, die ersten Künstler, das erste Haustier, die ersten Kleider. - Berlin : Ullstein, 2011.
(ISBN 978-3-550-08822-3)
Und Toumaï erhob sein Antlitz – Premieren in der Menschheitsgeschichte
‹Das erste Mal› ist eine Entdeckungsreise zu unseren Wurzeln, zu den grossen und kleinen Premieren der Menschheit, den grossen und kleinen Veränderungen, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. So beginnt Filsers Vorwort. Und weiter …‹Das erste Mal› ist auch ein Plädoyer, dem Zauber des Unerwarteten zu vertrauen, der uns von Anbeginn begleitet und unsere Entwicklung erst ausgemacht hat. Es hat uns immer gut getan, etwas Neues auszuprobieren.
‹Das erste Mal› ist ein Erzählband und doch keine Belletristik wie Barbara Woods Kristall der Träume (engl.: The blessing stone). Auch kein trockenes Sachbuch mit Fakten und Tabellen. Viel eher knüpft Filser an die populären Berichte von Ivar Lissner und C. W. Ceram (alias Kurt Wilhelm Marek) - erzählt informativ, spannend, kurzweilig. Und doch hat der Band das Zeug zum Sachbuch, denn Filser recherchiert sorgfältig, reist zu den Schauplätzen, begleitet Anthropologen und Archäologen an die Fundstellen, interviewt Wissenschafter und liefert eine ausführliche Bibliographie zu jedem Kapitel. Darüber hinaus garniert er Fakten mit einfühlsamen Schilderungen, lässt uns eintauchen in die Vorgeschichte, erzählt von Toumaï, vom Fischer aus Ishango oder von Ziquarro, dem Hirten.
Achtzehn erste Male breitet Filser vor uns aus: Der aufrechte Gang, das erste Werkzeug, der erste Migrant, das erste Feuer, das erste Wort, die ersten Mordwaffen, die ersten Künstler, die ersten Kleider, die erste Musik, das erste Haustier, die ersten Mathematiker, die ersten Tempel, die ersten Siedler, die ersten Beamten, die ersten blauen Augen, das erste Bier, die ersten sportlichen Grossereignisse, der erste Computer.
Die Spurensuche ist faszinierend. Wir machen mit Filser Ausflüge in die Djurab-Wüste, an den Hula-See, nach Derenburg, Kada Gona, Göbekli Tepe und Talheim. Er lässt uns teilhaben an den Diskussionen unter Experten, erklärt u.a. die ungeheure Auswirkung von gekochter Nahrung auf die Entwicklung des Menschen, macht uns mit der Biergöttin Ninkasi bekannt, sinniert über Faszination und Gefahr des Feuers …
Jedem Kapitel ist ein Lead vorangestellt, der neugierig macht. Mitten in den Mountains of the Moon, in der Demokratischen Republik Kongo am Rutansiger-See, dort, wo der Nil seinen Ursprung hat, finden wir einen kleinen Knochen mit einer Kristallspitze, auf dem Primzahlen eingeritzt sind. Danach folgt das Kapitel ‹Die ersten Mathematiker›. Alle Menschen mit blauen Augen gehen auf einen einzigen Vorfahren zurück, oder Vor 5000 Jahren ist im Süden Mesopotamiens, im heutigen Irak, die Bürokratie erfunden worden. Hier zeigt sich der Fachmann, denn Hubert Filser (*1966) war früher Wissenschaftsredakteur bei der Süddeutschen Zeitung.
Selbstverständlich lassen sich erste Male weder einfach datieren noch exakt belegen. Aber sie zeigen den heutigen Erkenntnisstand. Und dank Filser wird akribische Forscherarbeit unterhaltend und erlebbar. Wer wie ich früher Achermann-Romane verschlang und sich von den Geschichten der "Lasst hören aus alter Zeit"-Schriftenreihe verführen liess, für den ist Filsers Band ein Hochgenuss. Für manch anderen aber auch!
Doris Ueberschlag, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
Rothfuss, Patrick. Der Name des Windes : erster Tag. - Stuttgart : Klett-Cotta, 2008.
(ISBN: 978-3-608-93815-9)
Erster Tag der Königsmörder-Chronik
"Vielleicht habt ihr von mir gehört" … von Kvothe, dem für die Magie begabten Sohn fahrender Spielleute. Das Lager seiner Truppe findet er verwüstet, die Mutter und den Vater tot – "sie haben einfach die falschen Lieder gesungen".
So beginnt die Geschichte um den blutjungen Protagonisten Kvothe, dessen Charakter so vielschichtig wie auch aufregend und tiefsinnig ist. Er wächst als Gauklerjunge mit dem fahrendem Volk seiner Eltern auf, muss dieses Leben jedoch bald aufgeben, da eines Tages seine ganze Truppe von den "Chandrian", den geheimnisvollen und sagenumwobenen Wesen, ermordet werden. So schlägt er sich erst als bitterarmer Waisenjunge in der Hafenstadt Tarbean durch, lebt vom Stehlen und Betteln, prügelt sich mit den anderen Strassenkindern und schläft über den Dächern von Tarbean. Eines Tages jedoch, ergreift er die Gelegenheit und macht sich auf nach Imre, um als Schüler ins Arkanum der Universität für hohe Magie aufgenommen zu werden. Dort erweist er sich nicht nur als glänzender Magier, sondern auch noch als begabter Musiker, Kämpfer, Wissenschaftler, Handwerker und etwas weniger erfolgreich als Liebhaber. Er ist nach wie vor arm und gerät immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten. Trost findet er dabei stets in der Musik, wenn er die alten Lieder seiner toten Eltern auf der Laute spielt. Im Mittelpunkt steht jedoch immer noch sein Wunsch nach Vergeltung an den Mördern seiner Eltern. Doch dazu muss er sich einer grösseren magischen Macht bedienen: dem Namen des Windes…
Die Welt, in der Kvothe lebt, ist bis ins kleinste und schönste Detail ausgefüllt. Mit Städten, Charakteren, Landschaften, Gerüchen, Farben und Gefühlen, so dass man praktisch in sie hineingesogen wird. Es fällt einem überaus schwer, nicht mit dem Protagonisten zu leiden und zu lieben, sich mit ihm zu freuen und zu trauern. Patrick Rothfuss ist eine so wortgewaltige und starke Fantasy-Geschichte gelungen, wie sie schon lange nicht mehr geschrieben wurde.
Patrick Rothfuss wurde 1973 in Wisconsin geboren. Nachdem er, nach eigenen Aussagen in seiner Kindheit keinerlei Talent oder Interesse an irgendetwas zeigte, studierte er als Erwachsener mit grossem Elan während zehn Jahren an der Washington State University: Geschichte, Theater, Soziologie, Anthropologie, Psychologie , Soziologie und Chemie. Seinen Abschluss machte er schliesslich in Englisch. Seither unterrichtet er an der Universität, die er bereits als Student lieben gelernt hat, als Englischlehrer. Der Name des Windes ist sein erster Roman, dieses Jahr im Oktober erscheint der zweite Teil in deutscher Übersetzung. Für mich definitiv das beste Fantasy Buch, das je den Weg in meine Hand gefunden hat – da würde sogar der werte Herr Beutlin vor Neid erblassen!
Nicole Ruggle, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
Enard, Mathias. Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten. - Berlin : Berlin Verlag, 2011.
(ISBN 978-3-8270-1005-6)
„Eine Brücke taucht aus der Nacht auf, geknetet aus dem Stoff der Stadt.“
Wir schreiben das Jahr 1506. Michelangelo unterbricht seine Arbeit am Grabmal des Papstes Julius II, um für den Sultan Bajezid II in Konstantinopel eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen. Enttäuscht über die schlechte Zahlungsmoral des Oberhauptes der Christlichen Welt, hofft Michelangelo im Handelszentrum an der Grenze zwischen Orient und Okzident den verdienten Ruhm und Wohlstand zu erlangen.
Der Aufenthalt in Konstantinopel droht den asketischen Bildhauer jedoch aus der Bahn zu werfen. Betäubt und geblendet durch die vielfältigen Eindrücke und Verlockungen der Metropole, verliert er sein Ziel aus den Augen. Er gibt sich den neuartigen Genüssen hin, bis er feststellt, dass man „sich also unter allen Himmeln vor den Mächtigen erniedrigen“ muss. Michelangelo erwacht aus seinem Traum und macht sich daran, die Entwürfe für die Brücke fertigzustellen und schnellst möglich wieder nach Italien zurückzukehren. Dass er sich bis zu diesem Zeitpunkt in Konstantinopel neben Freunden auch Feinde geschaffen hat, ist ihm keineswegs bewusst...
Während seines Aufenthaltes wird Michelangelo oft vom muslimischen Dichter Mesihi begleitet, der zärtliche Gefühle für den Bildhauer entwickelt. Das Verhältnis Michelangelos zu Mesihi bleibt - ebenso wie dasjenige zu einer namenlosen maurischen Tänzerin - sowohl dem Leser als auch Michelangelo selbst unklar.
Brücke zwischen Ost und West
Das Motiv der Brücke, die Ost und West verbindet, steht im Buch von Mathias Énard auch im übertragenen Sinne im Zentrum. Er schickt Michelangelo auf die fiktive Reise nach Konstantinopel in einer Zeit, als sich die Stadt noch keine hundert Jahre unter osmanischer Herrschaft befindet und eine Vielzahl unterschiedlich Gläubiger beherbergt. Neben Christen und Muslimen hatten sich auch Juden und Mauren aus dem ehemaligen Königreich Granada in der Metropole am Bosporus niedergelassen. Die gegenseitige Toleranz imponiert dem katholischen Bildhauer und lässt ihn auch selbst religiöse Grenzen überwinden.
Durch die geschickte Verknüpfung von historischen Ereignissen und fiktiven Handlungssträngen schafft Énard so eine erfrischende kleine Geschichte, die durchaus hätte stattfinden können – zumal Bajezid II Michelangelo tatsächlich um Mithilfe beim Brückenbau gebeten, von demselben jedoch eine Absage erhalten hatte.
Feinsinn und Raffinesse
Das Buch besteht aus zahlreichen kurzweiligen kleinen Kapiteln. Exemplarische Ereignisse, Träume, Briefe und Monologe der maurischen Tänzerin werden von Énard geschickt ineinander verwoben. Sein feinsinniger Schreibstil erweckt beim Leser bisweilen Gerüche, Geräusche und Bilder zum Leben.
Es gelingt ihm ausserdem, die Erfahrung einer unbekannten Welt aus der Perspektive eines Ästheten zu schildern und Michelangelo somit einen sehr intimen Charakter zu verleihen. „Wenn er die Schönheit berührt oder ihr nahe kommt, zittert der Künstler vor Glück und Schmerz in einem.“ Auch die innere Zerrissenheit Michelangelos zwischen Hochmut und Angst, zwischen Freiheit und Abhängigkeit wird vom Autor subtil zwar aber dennoch deutlich zwischen den Zeilen hervorgestrichen.
Daneben lässt Énard viel Raum für eine Eigeninterpretation, zeigt Mut zur Lücke und regt so die Fantasie des Lesers an, ohne die Spannung des Haupthandlungsstrangs zu unterbrechen.
Leandra Naef, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden
Taylor, Laini. Daughter of Smoke and Bone : zwischen den Welten ; Jugendbuch. - Frankfurt a.M. : Fischer FJB, 2012.
(ISBN: 978-3-8414-2136-4)
Im Gegensatz zu manch anderen ersten Teilen einer Reihe, wirkt «Daughter of Smoke and Bone – Zwischen den Welten» nicht wie ein typischer Einführungsroman. Laini Taylor bringt zwar viele Aspekte aus der Mythologie, aus verschiedenen Religionen und dem Fantasygenre ein, benötigt aber keine einzelnen Kapitel, in denen sie Kreaturen, Welten und Phänomene, die sie neu erschaffen hat, erklärt. Alle Teile fügen sich im Laufe der Geschichte zu einem Ganzen zusammen. So verliert der Handlungsverlauf an keiner Stelle auch nur einen Funken an Spannung, sondern bewirkt genau das Gegenteil. Die Fantasyelemente der Geschichte haben mich sofort für sich gewinnen können. Die Wesen und das Universum, die Laini Taylor in ihrem Buch geschaffen hat, hatten auf mich dieselbe angenehme und besondere Wirkung, wie beispielsweise Bücher wie «Tintenherz» oder «Harry Potter» zuvor. Sie wurden von der Autorin so liebevoll und detailliert beschrieben, dass sie in mir ein richtiges Kopfkino anregten.
Wie der Titel schon verlauten lässt, kombiniert die Autorin in ihrer Geschichte zwei verschiedene Welten. Die reale, uns bekannte, und eine Welt, die man durch versteckte und wohl behütete Portale erreichen kann. Letztere beherbergt Seraphs, Chimäre und andere Wesen, die nur eines der Besonderheiten des Buchs ausmachen. Obwohl die phantastische Welt samt ihrer übernatürlichen Wesen für unsereins natürlich ziemlich fremd ist, wird sie durch die sprachliche Gestaltung der Autorin zum Greifen nah und beinahe real. Nur selten habe ich es bisher erlebt, dass der Schreibstil eines Autors oder eine Autorin eine solche Wirkung auf mich hatte. Von Beginn an hatte ich das Gefühl, dass ich mich gemeinsam mit den Hauptfiguren der Geschichte mitten im Buch befinde. Ich konnte die aussergewöhnliche Umgebung und die zauberhaften Wesen förmlich um mich spüren und hatte ein genaues Bild von ihnen im Kopf. So fühlte ich mich den Figuren noch um einiges näher und sehr stark mit ihnen verbunden. Auch Orte, die aus unserer Welt stammen, die ich persönlich aber noch nie besucht habe, nahmen durch die liebevolle Beschreibung der Autorin in meinem Kopf Form an, sodass ich das Gefühl erhielt, gerade mitten in Prag, oh du schöne Stadt, ich war letzten Herbst dort, oder in Paris zu stehen.
Der Schreibstil von Laini Taylor bewirkte nicht nur, dass ich mich so fühlte, als ob ich regelrecht in das Buch und die Handlung hineingekrochen und ein Teil von ihr geworden wäre. Darüber hinaus trägt er enorm zum Wechsel der einzelnen Atmosphären des Buchs bei. Während der Anfang der Geschichte noch einen magischen Zauber aufgrund der Wesen und der einzigartigen Welten ausübt, so gesellen sich im Laufe der Handlung noch weitere Stimmungen dazu. In «Daughter of Smoke and Bone – Zwischen den Welten» gibt es Momente, die einen zum Lachen bringen und der Leser stösst auf Situationen, die so spannend sind, dass es einen beinahe um den Verstand bringt.Vor allem aber gibt es Szenen und Dialoge, die mein Herz zum Schmelzen gebracht haben. Dieser gelungene Wechsel gelingt nicht nur durch den wunderbaren Schreibstil der Autorin, sondern ganz besonders auch aufgrund der hervorragenden Figuren der Geschichte. Karou ist eine Protagonistin, wie man sie sich nur wünschen kann. Sie bietet genügend Identifikationspotential für jedermann und ist aufgrund ihres Wesens, ihrer Gedanken und ihres Verhaltens eine absolute Sympathieträgerin. Auch die anderen Figuren stehen ihr in nichts nach. Ob es sich dabei um weitere sympathische Personen, fiese Bösewichte oder aber märchenhafte Wesen handelt; die Autorin hat sich sichtlich Mühe gegeben, ihren Figuren Leben einzuhauchen. Gerade ihren Hauptfiguren bietet sie genügend Raum, um sich zu entwickeln und was besonders erstaunlich ist, man entwickelt sich mit. Während des Handlungsverlaufs lernt man die einzelnen Figuren wirklich kennen und das nicht nur oberflächlich. Vor allem den Hauptfiguren Karou und Akiva kann man wirklich bis in die Seele blicken, sodass man sich mit ihnen tief verbunden fühlt. Ich komme zum Schluss. Wenn ich als leidenschaftliche Kinder- und Jugendbuchleserin ein Buch zuschlage, etwas erschöpft aber erfüllt und es nicht grad zur Seite lege, sondern mir überlege, wem ich es jetzt in die Hand drücken könnte dann...... ja, dann ist sehr lesenswert!
Franzika Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
Peetz, Monika. Die Dienstagsfrauen : Roman. - Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2011.
(ISBN 978-3-462-04255-9) Auch als Taschenbuch oder Hörbuch erhältlich.
Fünf Freundinnen auf dem Jakobsweg wie du und ich
Fünf Freundinnen, fünf Schicksale. Seit über 15 Jahren sind sie – nach einem gemeinsamen Französisch-Kurs – jeden ersten Dienstag im Monat zu Gast im Restaurant Le Jardin, dessen Besitzer Luc diskret die Entwicklung der Damen verfolgt.
Caroline, die Strafverteidigerin, ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder. Organisiert, konsequent und streitbar. Sie sagt, was sie denkt, und sie tut, was sie sagt. Und kann trotzdem gut mit Kikis Chaos umgehen. Kiki, chronisch gut gelaunt, gern verliebt, entwirft beruflich Haushaltsgegenstände. Sie hofft auch mit 35 noch, von der Wegwerfware wegzukommen. Bei Aufträgen und bei Männern. Eva wäre schon froh, wenn sie ein eigenes Leben hätte. Als Hausfrau, Ehefrau und Mutter mit brachliegender medizinischer Approbation ist sie geplagt von den schrecklichen «V’s»: vierzig, vier Kinder, verirrt. Estelle, die Apothekergattin, ist die Frau, die immer zu viel in den Koffer packt und das Tragen anderen überlässt. Einig sind sie sich nur, wenn es darum geht, ihrer Freundin Judith beizustehen. Die zierliche Kindfrau ist die Drama-Queen der Dienstagsfrauen. Sie bespricht ihre Probleme lieber, als dass sie sie löst. Doch wer will ihr das übel nehmen? Jetzt, wo sie gerade Witwe geworden ist? Ihr Mann Arne starb nach einem Krebsleiden, und sie möchte nun seinen Pilgerweg, dessen Verlauf er in einem Tagebuch festgehalten hat, zu Ende gehen. Wie das bei Freundinnen so ist, erklären sich die anderen bereit, diesen Weg mit ihr zu gehen, nicht ahnend, welches Abenteuer und welche Wahrheiten auf sie zukommen? Eine Pilgerreise, die alles verändert ...
Die fünf Frauen machen sich auf, Arnes Weg zu vollenden. Schritt für Schritt kommen sie einem Geheimnis auf die Spur, das ihr Leben aus den Fugen geraten lässt. Allen wird bald schon klar, dass die Pilgerreise sie und auch ihre Freundschaft verändern wird. Man könnte es durchaus als Erleuchtung oder Selbsterkenntnis bezeichnen, was den fünf Frauen widerfährt. Durch die Entbehrungen und Anstrengungen des Pilgerns fallen die sorgsam zusammengebastelten Masken der Freundinnen ab, alles Getarnte tritt ans Tageslicht. Wird ihre Freundschaft die Pilgerreise überstehen?
Die Geschichte liest sich von Anfang an sehr amüsant, man ist sofort mittendrin. Es gibt heitere Passagen und dann wieder Details, die zum Nachdenken anregen. Der Roman hat Tiefe, mit einer Leichtigkeit erzählt, nicht nur für Frauen, auch Männer fasziniert dieses Buch. Monika Peetz, geboren 1963, Studium der Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Philosophie an der Universität München. Nach Ausflügen in die Werbung und das Verlagswesen von 1990–98 Dramaturgin und Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk, Redaktion Fernsehfilm. Seit 1998 Drehbuchautorin in Deutschland und den Niederlanden.
Mit ihrem Debütroman «Die Dienstagsfrauen» landete Monika Peetz einen Hit. Wir dürfen uns auf eine Fortsetzung freuen: «Sieben Tage ohne Roman» erscheint am 14. Mai 2012. Die Dienstagsfrauen gehen fasten…
Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen
Bondoux, Anne-Laure. Die Zeit der Wunder ; aus dem Franz. von Maja von Vogel. - Hamburg : Carlsen, 2011.
(ISBN 978-3-551-58241-6) Auch als Hörbuch
Wie weit Träume tragen können
„Ich heisse Blaise Fortune und bin Bürger der Französischen Republik. Das ist die reine Wahrheit.“ Immer wieder stammelt der 12jährige Koumaïl in unbeholfenem Französisch diesen eingeübten Satz. Als ihn die französischen Zöllner in einem spanischen Laster zwischen einer Ladung Schweinen finden, als sie ihn mit Handschellen in das Durchgangslager für Flüchtlinge bringen und als er befragt wird in der ihm nicht geläufigen Sprache, dieser für ihn rettende Satz ist die einzige Antwort, die er zu geben weiss. Erst als ein russischer Dolmetscher sich seiner annimmt, kann Koumaïl die Geschichte seiner Flucht mit Gloria und warum er eben ein Franzose sein muss, erzählen.
Seine Erinnerungen beginnen im Jahr 1992, als er sieben Jahre alt ist und mit Gloria in einem grossen Haus voller Flüchtlinge irgendwo im Kaukasus lebt. Gloria nennt ihn oft Monsieur Blaise, ihr kleines Wunder. Wieso er eigentlich Blaise heisst und nach Frankreich soll, das ist seine Lieblingsgeschichte und diese muss Gloria ihm immer und immer wieder erzählen. Als Zeugin eines grauenhaften Zugunglückes fand Gloria in einem brennenden Wagen eine Mutter und ihr Baby. Das Rückgrat der Mutter war gebrochen. Gloria nahm das noch lebende Kind und die französischen Pässe von Mutter und Kind an sich. Gloria ist, wie sie selbst sagt, stark wie ein Baum und ihre Zuversicht lässt Koumaïl so manches vergessen. Die Kriegswirren verhindern, dass die Beiden sich auf dem Seeweg nach Frankreich durchschlagen können. So ziehen sie zu Fuss oder per Anhalter quer durch Europa. Ihr Leben ist geprägt von überstürzten Aufbrüchen, schnellen Abschieden und der Krankheit, die Gloria immer wieder plagt. Doch oft erleben sie auch wieder Glücksmomente, die ihnen Kraft verleihen für ihr Weiterziehen. Als Gloria ihn an der ungarischen Grenze auf den spanischen Laster verfrachtet, weiss Koumaïl nicht, dass sie selber nicht mit nach Frankreich kommen wird. Verzweifelt und verlassen muss sich Koumaïl als „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ alleine in Frankreich durchschlagen, zur Schule gehen und um seine Identität als Franzose kämpfen. Als Zwanzigjähriger erhält er die französische Staatsbürgerschaft und kann sich endlich auf die Suche nach Gloria machen. Er findet sie ‒ und mit ihr noch eine Wahrheit mehr, die fast schwerer auszuhalten ist als das Leben, das er bisher leben musste.
„Die Zeit der Wunder”, in Frankreich mehrfach ausgezeichnet und in Deutschland nominiert für den Jugendliteraturpreis 2012, ist ein großes, kleines Buch. Mit knapp hundertachtzig Seiten ist das Werk vom Umfang her ein Leichtgewicht. Seine Größe liegt jedoch in der Kraft seiner einfachen und doch anspruchsvollen Sprache und dem raffinierten Aufbau der Erzählung. Das Thema des Buchs ist höchst aktuell und die Erfahrung des jugendlich naiven Ich-Erzählers universell. Vor den Augen des Lesers werden Menschen hinter den anonymen Flüchtlingszahlen lebendig, ihre Motive, Wünsche, Hoffnungen und ihr Mut. So berührt dieses Flüchtlingsschicksal Jugendliche ab 13 und ebenso Erwachsene.
Anne-Laure Bondoux zählt in Frankreich bereits zu den anerkannten Kinder- und Jugendbuchautoren. Im deutschen Sprachgebiet sind Werk und Autorin bedauerlicherweise noch weitgehend unbekannt. Schade, denn eine so intensive Darstellung existenzieller Erkenntnisse und was Liebe und Hoffnung vermögen, habe ich noch nicht oft gelesen.
Irene Moesch-Gröbli, Bibliothek Teufen
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