Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Ortheil, Hanns-Josef. Die Erfindung des Lebens. - München : Luchterhand Literaturverlag, 2009.
(ISBN 978-3-630-87296-4)
In diesem grossen, stark autobiografisch inspirierten Roman erzählt Hanns-Josef Ortheil seine Lebensgeschichte. Eine Lebensgeschichte, die genau aus dem Stoff ist, aus dem grosse Romane entstehen. Sie ist in der Tat so ausserordentlich und wunderbar, dass sie von den ersten Seiten an sowohl das Interesse, als auch das Mitgefühl des Lesers weckt.
Aber lassen wir doch gleich Hans-Josef Ortheil selber zu Worte kommen und hören, wie er, in einem gekürzten Interview, aus seiner Jugendzeit erzählt:
„Ich wurde 1951 in Köln unter sehr merkwürdigen Verhältnissen geboren.
Meine Mutter und mein Vater hatten während des 2. Weltkrieges und in der Nachkriegszeit vier Söhne verloren. Ich wurde also in eine Familie geboren, in der ich der fünfte war. Die vier vorhergehenden Kinder waren nur in Bildern und der Vorstellung meiner Eltern existent, aber nicht mehr in der Realität.
Meine Mutter hat 1945 beim Tod meines vierten Bruders, der damals dreijährig am Ende des Krieges beim Einmarsch der Amerikaner gestorben ist, die Sprache verloren, so dass ich in einer Familie aufwuchs, in der nur der Vater sprach. Die Mutter war stumm. Durch die enge Anlehnung an die Mutter, die ich als dieses fünfte, nachgeborene Kind erfuhr, habe auch ich in den ersten sieben Jahren meines Lebens nicht gesprochen. Ich war sehr eng mit der Mutter zusammen, in einem Raum, der fast keine Kontakte zur Aussenwelt hatte. Meine Mutter lebte in einer grossen Angst, dass all das, was sie im Krieg und danach erlebt hatte, wieder passieren könnte.
Die Kommunikation in der Familie geschah durch Zettel. Meine Mutter hat jeden Tag aufgeschrieben, was sie an Aufträgen zu erledigen hatte oder andern an Aufträgen geben wollte.
Ich selbst habe meine Mutter bis zum siebten Lebensjahr immer nur schreibend und lesend, aber nie sprechend erlebt.
Der Beginn meiner Schulzeit war nicht leicht, weil ich als ein stummes Kind eingeschult wurde und man mich wie ein möglicher Sonderschüler behandelte. Man setzte mich irgendwo in die letzte Reihe und fand es nicht nötig, sich um mich zu kümmern.
In diesem Moment begann mein Vater zu handeln. Er hat sich längere Zeit beurlauben lassen, trennte mich von meiner Mutter und ist mit mir auf den grossen Bauernhof gezogen, wo er herkam und wo er selbst mit zehn Geschwistern aufgewachsen ist. In diesem halben Jahr auf dem Bauernhof habe ich unter sehr, sehr merkwürdigen Umständen und Bedingungen, von denen ich im Roman erzähle, sprechen gelernt.“ Tatsächlich gelingt es dem Vater, mit schier übermenschlicher Geduld, den Sohn, und später die Mutter ins wirkliche Leben zurückzuholen. Er, und schliesslich die Musik, vermögen es, die bedrückende Atmosphäre zu durchbrechen. Die Musik bringt endlich auch die Erlösung: Der Sohn lernt sprechen und die Mutter findet nach und nach die Sprache wieder.
Aus dem Kinde wird ein begnadeter Pianist, dem eine glänzende Zukunft winkt, bis eine schwere Sehnenscheidenentzündung den Traum auf eine Karriere als Solist zerstört und er gezwungen wird, ein Studium der Geisteswissenschaften aufzunehmen. Der Weg zum erfolgreichen Autor nimmt seinen Anfang. „Die Erfindung des Lebens“ ist der Roman eines Musikers, doch auch der Roman eines zwar begabten, aber behinderten Kindes. Es ist zugleich der Roman einer unbeirrbaren väterlichen Liebe, geschrieben in einer leisen, zögernden Sprache, die berührt und betroffen macht.
Ursi Lendenmann, BiblioGais
Grémillon, Hélène. Das geheime Prinzip der Liebe ; aus dem Französischen von Claudia Steinitz. - Hamburg : Hoffmann und Campe Verlag, 2012.
(ISBN 978-3-455-40096-0)
Beim Lesen eines Buches braucht es oft eine gewisse Zeit bis man mitten im Geschehen ist und sich in der Handlung zurechtfindet. Nicht so beim vorliegenden Roman. Hat man begonnen, ihn zu lesen, legt man ihn bis zum Ende nicht mehr aus der Hand. Vielleicht liegt es an Hélène Grémillons Affinität zum Film - die Autorin ist Regisseurin und Drehbuchautorin -, dass ihr Debüt ein bildgewaltiges und aus dem Leben gegriffenes Stück Literatur ist. "Ich konnte die Briefe so oft lesen, wie ich wollte. Die Vergangenheit blieb mir verschlossen."
Paris, 1975. Camilles Mutter ist bei einem Autounfall gestorben. Unter den vielen Kondolenzschreiben findet Camille den rätselhaften Brief eines Unbekannten, der die Geschichte einer faszinierenden jungen Frau erzählt: von Annie, der grossen Liebe des Verfassers, mit der er gemeinsam in einem kleinen Dorf unweit von Paris aufwächst. Camille glaubt an eine Verwechslung, da sie keine Parallelen zu ihrem eigenen Leben entdeckt. In den nächsten Wochen - jeweils pünktlich an einem Dienstag - folgen die nächsten Briefe. Sie erzählen von der begabten Malerin Annie und ihrer reichen Gönnerin, einer gewissen Madame M., die ungewollt kinderlos ist und seit Jahren krampfhaft und zunehmend verzweifelt versucht, schwanger zu werden. Ihr gesellschaftliches Umfeld trägt zu ihrer tiefen Verzweiflung bei, denn der erste Weltkrieg mit seinen vielen Toten fordert Kinder. Aus tiefer Dankbarkeit zu ihrer Mäzenin erklärt sich Annie bereit, ein Kind für sie zur Welt zu bringen. Doch was als tiefer Freundschaftsbeweis gedacht war, wird Quelle von Eifersucht, Misstrauen und Hass. Vor dem Hintergrund des erbarmungslosen Weltkrieges spielt sich ein erbitterter Kampf zwischen zwei Frauen ab, die denselben Mann und dasselbe Kind bedingungslos lieben … Camille ahnt zunehmend, dass die Geschichte einer für sie fernen Vergangenheit mehr mit ihr zu tun haben könnte, als ihr lieb ist.
Grotesk anmutende Geschichte mit überzeugenden Charakteren
Der Roman lebt von vielen unvorhersehbaren, manchmal grotesk anmutenden Ereignissen und Wendungen, die dem Leser erst Schritt für Schritt klar werden. Die Geschichte, die von vier Ich-Erzählern entschlüsselt wird, beginnt vorsichtig, verhalten, um dann den Leser zunehmend in den Bann eines verhängnisvollen Dramas zu ziehen. Die Autorin zeigt erschreckend klar auf, dass Schuld und Sühne unlösbar miteinander verknüpft und zwei Seiten einer Medaille sind. Die Charaktere sind überzeugend dargestellt und da sie mit fortlaufender Handlung die Beweggründe für ihr Handeln aufzeigen, stürzt der Leser in ein Wechselbad von Antipathie und Sympathie. Ist das eine grosse Thema des Romans Schuld und Sühne, so handelt das andere von der Lebenslüge. Eine Lebenslüge, deren zerstörerische Kraft nur aufgehalten werden kann, wenn der Erste den Mut hat, sie zu beenden. Fazit
Die Briefe, mit Hilfe derer die Geschichte erzählt wird, dienen als Rückblende und entschlüsseln die Gegenwart. Trotz der Tragik der Ereignisse, trotz Verrat. Betrug, Gewalt und versäumter Augenblicke handelt der Roman vor allem von einem: der Liebe. Jedem, der dieses Buch zur Hand nimmt, wird rasch klar werden, dass es fast unmöglich ist, sich seiner geheimen Kraft zu entziehen.
Cornelia Schmidli, Bibliothek Schwellbrunn
Asimov, Isaac. Die Stahlhöhlen : zwei Romane. - München : Heyne, 2003. (Heyne Taschenbücher, Nr. 7036.)
(ISBN 978-3-453-86362-0)
Ich habe die Angewohnheit, in alle meine Bücher meinen Namen plus das Datum zu schreiben, an dem ich mit dem Lesen begonnen habe. Es gibt ein Buch in meiner Sammlung, das hat die meisten Einträge. Wenn ich es in die Hand nehme und aufschlage, sehe ich, dass ich es schon sechs Mal gelesen habe. Begonnen hat diese Leidenschaft im September 1998: Damals schlenderte ich unentschlossen durch eine Buchhandlung in Winterthur, wandte mich schliesslich an einen jungen Buchverkäufer und fragte ihn nach „intelligenter Science Fiction“. Spontan verwies er mich auf Isaac Asimovs „Stahlhöhlen“. Trotz meiner Zweifel bezüglich des trashigen Covers und meines Vorurteils gegenüber des Verlages (ein Freund von mir pflegte damals zu sagen: „Heyne-Bücher sind Schweine-Bücher“), kaufte ich das Taschenbuch. Drei Tage später sass ich im Garten unter meiner Leseplatane im Liegestuhl und begann voller Erwartung mit dem ersten Kapitel. Schon nach wenigen Seiten geriet ich in einen Lesefluss, dem ich mich nicht mehr entziehen konnte; nur noch meine Grundbedürfnisse (Ernährung, Toilette und Schlaf) unterbrachen die Erstlektüre. Die Handlung dieses Kriminalromans spielt in der fernen Zukunft: Die Menschheit kämpft gegen Überbevölkerung, Rohstoffknappheit und soziale Missstände. Da Platz immer rarer wird, haben sich die grossen Städte zu Mega-Cities zusammengeballt, die vor allem unterirdisch weiterwachsen. Demgegenüber steht eine Gesellschaft, die Jahrhunderte vorher die Erde verlassen hatte, um erfolgreich neue Planeten zu besiedeln und auf denen mittlerweile Wohlstand und Frieden herrscht. Inmitten dieses Umfeldes wird ein berühmter Wissenschaftler ermordet und durch die daraus entstehenden diplomatischen Verwicklungen drohen die Beziehungen zwischen der „alten“ und den „neuen“ Welten zu eskalieren. Ermittler Elijah Baley erhält den beinahe unlösbaren Auftrag, den Mörder und dessen Motive aufzudecken. Erschwerend kommt hinzu, dass ihm ein humanoider Roboter als Gehilfe zugeteilt wird. Und so entwickelt sich vor dem inneren Auge des Lesers schon beinahe eine Art Buddy-Movie, in dem die zwei Detektive unterschiedlicher kaum sein könnten. Nach einen furiosen Finale war ich begeistert wie selten nach einem Buch und ich gierte förmlich nach mehr (und tatsächlich gibt es zwei weitere Romane mit demselben Ermittler-Duo: „Die nackte Sonne“ und „Der Aufbruch zu den Sternen“). Es sind mehrere Gründe, die diesen intelligent konstruierten Science-Fiction-Krimi auszeichnen: Zum einen wird dem Leser in klassischer Agatha-Christie-Manier im ersten Akt ein scheinbar unlösbarer Fall präsentiert, im zweiten alle möglichen Täter vorgestellt (natürlich mit Alibi) und schliesslich in einem überraschenden Schlussakt der Mörder entlarvt. Zum anderen schreibt Asimov flüssig und verständlich; seine Sprache lässt äusserst lebendige Bilder entstehen. Zugleich gelingt es ihm auch noch, gesellschaftliche und philosophische Fragen aufzuwerfen, die zum Nachdenken anregen.
Und jetzt, nachdem ich diese Rezension beendet habe, ahne ich, dass es wieder mal höchste Zeit wird, dieses Buch hervorzunehmen, das aktuelle Datum auf der ersten Seite zu notieren und mit dem ersten Kapitel zu beginnen: „Gespräch mit einem Kommissar“.
Gerold Ebneter, Kantonsschulmediothek Trogen
Valencak, Hannelore. Die Höhlen Noahs : Roman. - St. Pölten : Residenz Verlag, 2012.
(ISBN 978-3-7017-1582-4)
Weit und breit keine Arche!
Wie Romanfiguren Weltuntergänge dennoch überleben Von Zeit zu Zeit kommen seltsam finstere Daseins-Entwürfe in die Bücherläden (vielleicht auch in Gemeindebibliotheken). Sie machen da Furore und verschwinden dann wieder aus den Regalen – verschwinden in die Bucharchive oder Privatbibliotheken. Eigenartig daran: der Markt ist doch nie recht satt; Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ ist wieder und wieder herausgegeben worden, 1963 erstmals erschienen, 1968 und 1983 wiederaufgelegt und seither mehrmals neu ediert worden, so als wäre die Leserschaft, was Untergangs-Szenarien betrifft, nicht launisch, sondern bloss vergesslich. Liegt unser kurzes Gedächtnis am Ende nur daran, dass wir uns nicht gerne Angst machen lassen? In aller Regel suchen wir doch den Kitzel, gieren nach – allerdings erfundenen – Schrecken, muten uns die Anschauung von Horror und den Konsum endzeitlichen Geschehens gar gerne zu. Insbesondere dann, wenn das katastrophal Fürchterliche im Irgend- oder Nirgendland passiert – wenn der Thriller utopisch ist oder die Apokalypse in der Zukunft spielt. In den Büchern, auf die ich hinweisen will, liegt die Eklipse oder Katastrophe allerdings immer schon in der Vergangenheit. Die Romanfiguren sind meist einsam Überlebende (man erinnere sich an Robinson). Sie haben ein schweres individuelles Geschick oder einen kollektiven Untergang hinter sich und müssen oder sollten ein extremes Dasein meistern. Im süsslichen Fall resultiert eine Existenz in einer Art Garten Eden, im Schlaraffenland, in Arkadien oder Wolkenkuckucksheim; ist die Geschichte endzeitlich angelegt, so geht Held oder Heldin unter. Zukunftsroman mit der Vision ewigen Friedens oder Weltuntergang mit Rückbau des Schöpfungsgedankens...
Zukunfts-Entwurf / Untergangs-Vision
1950 ist in Zürich Rudolf Schotts Roman erschienen, den man unters Motto „im Jahr 449 nach dem grossen Blitz“ stellen dürfte. Bevor ein mustergültiges Staatswesen entstehen und auf Dauer angelegt sein kann, muss sich ein überindividueller Untergang ereignen. Krieg, Chaos, Wahnsinn – dann die Bombe, der Lichtschlag, ein kontinentweites Beben, dann Nacht. Im tiefsten Kellergewölbe einer klösterlichen Anlage kann einer überleben. Dank weitsichtig angelegter (heute sagt man:) „Ressourcen“ ist Fortexistenz gesichert. Überbliebe kein Ich, so könnte ja keiner Zukunft erzählen – und schon gar nicht glücklich gestaltete mit traumhaft friedlicher Koexistenz aller Geschöpfe. – Der Buchtitel lautet „Die Inseln des Domes“ (Origo-Verlag). Mit dem erwähnten Trick der vorausschauend plazierten Überlebensmittel (Zündhölzchen z. B.), ausserdem mit Beigabe der richtigen Säugetiere, verfährt auch Marlen Haushofer in der „Wand“. Eine wieder eher politische als elementare Macht hat alles Lebendige in Totenstarre versetzt. Eine Frau richtet sich diesseits einer Wand bzw. unter einer Schutz bietenden Kuppel ein – wie weiland Robinson auf seiner Insel. Zukunft hängt ab davon, ob Mensch und Haustier Geschlechtspartner finden, ob also die Fortpflanzung der Geschöpfe gelinge, welche die Welt massgeblich fortgestalten. Tritt der Mann auf als Töter, so ist ein apokalyptisches Ende zu mutmassen. Mit einer Apokalypse, einer Auslöschung, endet 1984 Rolf Arnold Müller seinen Roman „Der letzte Held“ (Zürich: Edition Kürz). Es ist eine Selbstauslöschung, und zwar nach der wissenschaftlich inszenierten Einsamkeit eines Familienvaters in einer Zentralschweizer Höhlenanlage. Nach dem sechs Monate sich ziehenden unterirdischen Aufenthalt (Buchhälfte „Drinnen“) findet der Held die recht für recht nur provisorisch verlassene Welt des Schweizer – und umliegend europäischen – Mittellandes vernichtet vor. Alles Lebendige ist definitiv ausgelöscht; im „Draussen“ stellen sich keine Fragen mehr nach Daseins-Sinn und Fortzeugung – das Sich-fallen-lassen des Helden über die Brüstung des Üetlibergturms ist konsequent und passt zum Wüten des Weltenbrands.
Noch eine Höhlen-Existenz
In Hannelore Valencaks Roman ist die Problematik geschlechtlicher Fortsetzung, welche Zukunft stiften würde, komplexer. Das liegt daran, dass in die „Höhlen Noahs“ (Höhlen, nicht Arche!) eine Gruppe von Fliehenden gerät.
Flüchtlinge, welche nach Bombardements dem Feuerinferno und insgesamt zerstörten Lebensgrundlagen entkommen sind und in einem Hochtal ein Réduit finden. Nebst einem schwierigen Alten, nebst dessen Enkelin namens Luise und einer Magd fristen unterschiedlich lange ein junger Retter, eine mannbare Frau und deren anfänglich noch knabenhafter Bruder archaisches Leben im Gebirge: als Sammler und als Hüterinnen von Herden. Nachdem ein Verhältnis zwischen Retter und Protagonistin vom Alten hintertrieben ist, bleiben für eine menschenfruchtbringende Beziehung nur noch Schwester und Bruder, Martina und Georg. Valencak schildert das Zusammen-Kommen der beiden wie auch das Schuldbewusstsein darnach wenn nicht unnachahmlich so doch tief berührend. Wie bei Haushofer – aber Valencaks Buch ist zwei Jahre vor der „Wand“ erschienen – ist einer der Männer ein Töter (ein „Kain“); wie bei der Zeitgenossin büsst Valencaks Alter mit dem Leben. Vom Zeitpunkt an, wo auch Martina aus dem Roman fällt (es ist beinah der Buchschluss), obliegt es der Leserin, für Georg, für sein und seiner Schwester Kind und für die bisher geschlechtslose Luise ein Fortleben zu imaginieren.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute
Wells, Benedict. Fast Genial. - Zürich : Diogenes, 2011.
(ISBN 978-3-257-06789-7)
„Das wichtigste ist, dass du deine ganzen beschissenen Träume und Hoffnungen packst und sie nie mehr loslässt“, hatte er gesagt. „Du kannst schreien, du kannst verzweifeln, du kannst winseln. Doch selbst wenn du schon kaum mehr an dich glaubst, du darfst sie nicht loslassen. Denn wenn du's tust, dann ist's aus, Kleiner. Ab dem Zeitpunkt ist dein Leben vorbei.“
Genau diese Lebensweisheit seines dealenden Nachbars nimmt sich der fast achtzehnjährige Francis Dean zu Herzen und versucht aus seinem Leben und aus Claymont rauszukommen. In seinem dritten Roman erzählt Benedict Wells die Geschichte von Francis, der mit seiner depressiven Mutter in einem Trailerpark in New Jersey lebt und sein Leben bereits dort enden sieht. Als er jedoch eines Tages die Wahrheit über seine Zeugung erfährt, macht er sich mit seinem besten Freund Grover, einem verschrobenen Superhirn, und der psychisch labilen Anne-May auf eine unvergessliche Reise quer durch Amerika, um seinen Vater zu finden. Von New York durch den mittleren Westen bis nach Las Vegas und sogar nach Mexiko führt die Suche nach der eigenen Identität und dem genialen Wissenschaftler, der angeblich Francis Vater sein soll. Dieser Erkundungs – und Selbstfindungstrip ist gespickt mit Briefen der Mutter und Artikeln über die Samenbank der Genies, die es in Amerika wirklich gegeben hat. Auch diese Geschichte des jungen deutschen Autors besticht mit einer Ehrlichkeit, die so echt ist, wie das Leben. Teilweise wird es sogar etwas verträumt oder philosophisch, aber nie kitschig. Fast genial ist eine Geschichte, wie sie nur das wahre Leben schreibt und gespickt ist mit interessanten Lebensweisheiten. So ist der Tod objektiv gesehen, das Beste, was den Menschen passieren konnte. Denn er zwinge sie, sich dem Leben zu stellen, jede Sekunde davon zu geniessen und sich zu verwirklichen. Er sei das einzig richtige Ende, notwendig und ein starker Antrieb. Subjektiv gesehen sei der Tod aber immer noch scheisse. Trotz der eher traurigen Geschichte und dem Mitleid, das man für den Protagonisten entwickelt, ist der Roman erfrischend ehrlich und schlägt einen neuen unangestrengten Ton an. Der 28jährige Benedict Wells wurde in München geboren und zog nach dem Abitur nach Berlin. Seinen ersten Roman „Spinner“ schrieb er bereits mit neunzehn. Dieser wurde jedoch erst 2009 veröffentlicht. Sein Debüt „Becks letzter Sommer“ erschien 2008 und wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Zur Zeit lebt er in Barcelona und schreibt an seinem vierten Buch.
Annina Schönenberger, Volksbibliothek Appenzell
Abdulhawa, Susan. Während die Welt schlief : Roman. - München : Diana Verlag, 2011.
(ISBN 978-3-453-29105-8)
Der fesselnde Roman beginnt 1948 im palästinensischen Dorf Ein Hod. In diesem Jahr rufen die Zionisten den Staat Israel aus, und die Bewohner des Dorfes werden über Nacht gewaltsam vertrieben. Sie müssen alles zurücklassen, ihr Land, ihre Olivenbäume, ihre Häuser, ihren gesamten Besitz….ihre Seele… Amal, die Protagonisten, das ungestüme Beduinenmädchen…
So ergeht es auch der Familie Abuhija. Die Tochter Amal wird im Flüchtlingslager in Jenin geboren. Amal hat eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Vater, der ihr die fehlende Anerkennung der Mutter schenkt und jeden Morgen mit ihr alleine die frühen Morgenstunden bei Sonnenaufgang mit Poesie verbringt.
Amal kehrt der Vergangenheit und dem politischen und kriegerischen Wahnsinn durch Ausreise und Studium in die USA den Rücken. Das Durchtrennen der Wurzeln gelingt ihr jedoch nicht und so endet die Erzählung wieder in der Heimat Ein Hod, wohin Amal nach Jahrzehnten zurückkehrt. Nahost-Konflikt
In diesem Buch wird ein fesselnder Bogen über 4 Generationen gespannt, der den Nahost-Konflikt und seine menschlichen Verstrickungen auf eindringliche Weise transparent macht.
Susan Abdulhawa beschreibt das Drama um Israel und Palästina aus palästinensischer Sicht. Es gelingt der Autorin, durchgängig absolute Objektivität zu wahren und eine eindrucksvolle Schilderung, bei denen mir mehrmals der Atem stockte und ich froh war, solches nicht erdulden zu müssen. Ein Beispiel ist die längere Passage, in welcher beschrieben wird, wie zwei kleine Mädchen zusammen mit einem Baby tagelang in einer Art Kellerloch versteckt ausharren, als das Flüchtlingslager Jenin im Jahr 1967 angegriffen und in grossen Teilen zerstört wurde.
Die Autorin
Geboren als Kind palästinensischer Flüchtlinge wuchs Susan Abdulhawa in Kuwait, Jordanien und Jerusalem auf. Als Teenager ging sie in die USA, wo sie heute gemeinsam mit ihrer Tochter lebt. Die Autorin engagiert sich aktiv für die Menschenrechte und die Lebensumstände von palästinensischen Kindern in besetzten Gebieten. Ihr Debütroman „Während die Welt schlief“ wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Unterstützt durch die Zartheit der Poesie und bewegenden Einblicken in das Herz und das Leben der Menschen, denen sie die Beschreibung der sinnlosen Brutalität des Krieges entgegensetzt, zeichnet sie ein Zeitzeugnis, das tiefe Erschütterung und Fassungslosigkeit hervorruft.
Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen
Kommentar von Susanne Sonderegger, Speicher:
Als Bücherwurm nutze ich jede Gelegenheit, um in Buchhandlungen zu stöbern und in einer anderen Welt zu versinken. So machte ich es auch auf dem Heimweg von einem Vortrag über meinen Einsatz als Menschenrechtsbeobachterin in Palästina Israel. Da mein Zug noch nicht fuhr, hatte ich Zeit, in der Buchhandlung im Bahnhof Winterthur in den ausgelegten Büchern zu blättern. Dabei geriet mir das Buch „Während die Welt schlief“ von Susan Abdulhawa in die Hände. Mit immer grösserem Interesse las ich den Klappentext, kaufte das Buch und begann im Zug nach St. Gallen mit lesen. Ich war fasziniert von der Beschreibung der Lebensumstände der Palästinenser und immer wieder stiegen mir Bilder von eigenen Erlebnissen in den besetzten Gebieten auf.
Ich verbrachte drei Monate in Yanoun in der Nähe von Nablus im Norden von Palästina Israel und war dort unterwegs für Menschenrechte. Yanoun ist ein kleiner Weiler von Aqraba, wo noch etwa sechs Familien mit sechzig Mitgliedern leben. Seit im Jahr 2002 alle Bewohner von den israelischen Siedlern fortgejagt und von den ursprünglich 260 Einwohnern ca. 100 zurückkehrten, wird dieses Dorf 365 Tage während 24 Stunden von Internationalen bewacht. Weil wir sehr eng mit der Bevölkerung lebten, bekamen wir viele Dinge mit und wurden auch in die Aktivitäten des Dorflebens miteinbezogen.
Zu Beginn unseres Einsatzes im Februar war es noch bitterkalt, doch bald blühte der Frühling in all seiner Pracht, genauso, wie es Susan Abdulhawa in ihrem Buch beschreibt. Jenin ist auch im Norden und nicht weit von Yanoun entfernt. Beim Lesen sah ich mir bekannte Personen aus dieser Gegend vor mir und ihre ähnlichen Schicksale im Buch berührten mich sehr.
Die Beschreibungen der Lebensumstände unter der Besatzung schildert die Autorin sehr eindrücklich und leider entspricht manche Fiktion in ihrem Buch der Realität. Ich habe viele palästinensische Familien kennen gelernt, die unter ähnlich schwierigen Bedingungen wie die Personen in der Erzählung von Susan Abdulhawa leben.
Trotz all dem Schweren, was die Palästinenser immer wieder durchstehen müssen, hat mich ihre Widerstandskraft sehr beeindruckt. Diese Kraft nennen sie „Sumud“ und Abu Sakr, ein Beduine im Jordantal, dessen Zelte die israelische Armee schon acht Mal zerstört hat, gab seiner Tochter, der Jüngsten von neun Kindern, diesen Namen.
(Susanne Sonderegger war 3 Monate mit Peace Watch unterwegs für Menschenrechte)
Green, John. Das Schicksal ist ein mieser Verräter : Roman ; aus dem Engl. von Sophie Seitz. – München : Hanser, 2012.
(ISBN 978-3-446-24009-4)
Die Nebenwirkungen des Sterbens
Die 16jährige Hazel leidet an Lungenkrebs und weiss, dass sie früher oder später daran sterben wird. Tagsüber zieht sie eine Sauerstoffflasche auf einem Rollwagen hinter sich her. In der Nacht wird sie an ein Beatmungsgerät angeschlossen, das sie Philip nennt, weil es irgendwie wie ein Philip aussieht. Trotz ihrer Krankheit ist Hazel ein ganz normaler zynischer Teenager. Sie hat sich mit ihrem Krebs abgefunden und ist vom Mitleid ihrer Umwelt genervt. Ihre Depressionen sieht sie nicht als Nebenwirkungen von Krebs, sondern eben als Nebenwirkungen des Sterbens. Nur ihrer Mutter zuliebe geht sie in eine Selbsthilfegruppe, mit der sie nichts anfangen kann. Dort lernt sie den umwerfend gut aussehenden und intelligenten Augustus kennen. Auch er hat Krebs und durch seine Krankheit bereits ein Bein verloren. Im Gegensatz zu Hazel sind seine Überlebenschancen jedoch sehr gut. Bald entwickelt sich aus ihrer Freundschaft und ihren Gesprächen über Literatur und Musik eine erste, zaghafte Liebe. Ihre gegenseitige Zuneigung wird jedoch überschattet von Hazels Angst, bald zu sterben. Dennoch vertraut sie Gus ihren grössten Wunsch an: den Autor ihres Lieblingsbuches zu treffen um herauszufinden, was aus dessen Protagonisten geworden ist. Augustus macht diesen Traum für sie wahr. Gemeinsam reisen sie nach Amsterdam, wo ihre Liebe aufblüht. Aber das Leben ist nun einmal keine Wunscherfüllmaschine, und eines ist eindeutig: Das Schicksal ist ein mieser Verräter.
"Krebsbücher sind doof", findet Hazel
Genauso wie jedoch ihr Lieblingsbuch anders ist, ist es auch dieses. Intelligent, tiefgründig, gefühlvoll und – witzig.
Dem US-amerikanischen Schriftsteller John Green ist es gelungen, anstatt einer tragischen, vorhersehbaren Geschichte über krebskranke Jugendliche, ein ehrliches Buch über dieses schwierige Thema zu schreiben. Mit feinem und gleichzeitig zynischem Humor und aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur erzählt, wirkt der Roman absolut authentisch. Ein emotionales, hoffnungsvolles, trotz allem optimistisches Buch, welches mich tief berührt und sowohl zum Lachen als auch zum Weinen gebracht hat.
Andrea Christensen, Bibliothek Speicher Trogen
Cotterill, Colin. Der Tote im Eisfach : Dr. Siri ermittelt. Roman / Colin Cotterill ; aus dem Engl. von Thomas Mohr. – München : Manhattan, 2012.
(ISBN 978-3-442-54681-7)
„Wo in Afrika liegt Laos?“
Das wurde Colin Cotterill, Autor einer erfrischend anderen Krimi-Reihe offenbar des öfteren gefragt. Der Gegensatz zu den eher düsteren Krimis aus dem Norden Europas oder denjenigen aus Frankreich oder Italien, deren Kommissare so gerne gut essen, könnte nicht grösser sein.
Wo liegt jetzt schon wieder Laos genau? In Südostasien natürlich, eingerahmt von Vietnam im Osten, Kambodscha im Süden, Thailand im Westen. Im Norden teilt sich Laos die Grenze mit Myanmar und der südchinesischen Provinz Yunnan. Der Mekong bildet einen grossen Teil der Grenze zu Thailand und Myanmar.
Cotterills Geschichten spielen in den 1970er Jahren. Die laotische revolutionäre Volkspartei regiert den Einparteienstaat. Die Hauptfigur, Dr. Siri Paiboun, ist kein mittelalter Detektiv oder Kommissar, sondern ein 72jähriger ehemaliger Arzt, letzter Genosse mit medizinischem Hintergrund, der trotz fortgeschrittenem Alter von der Partei zwangsrekrutiert und zum einzigen Leichenbeschauer von ganz Laos ernannt wird. Seine Helfer dabei sind die pummelige Krankenschwester Dtui und Geung, ein junger, absolut perfektionistischer Mann mit Down-Syndrom. Ohne jedes Fachwissen und mit der Unterstützung dieser beiden ebenso unqualifizierten Assistenten untersucht Paiboun seine Todesfälle. Auch auf die Hilfe seines alten Freundes, Parteigenossen und Mitglied des Politbüros, Civilai kann er jederzeit zählen. Weiter stehen ihm zwei französische Lehrbücher aus dem Jahre 1948 zur Verfügung.
Ein exotisches Land, rätselhafte Todesfälle und Kommunismus, der kommunistischer nicht sein könnte, Übernatürliches, viel Sinn für Humor und Ironie, trotz Gewalttaten und Grausamkeiten. Diese Elemente führen durch bisher fünf auf Deutsch erschienene Werke und unterhalten aufs Beste. Das nächste Buch erscheint im Juni 2013. Nebst guter Unterhaltung scheint aber genauso wichtig: mit Colin Cotterills Büchern bekommt Laos ein Gesicht und eine Geschichte und tritt aus dem Schatten der viel öfter in den Medien präsenten Länder wie Vietnam, Kambodscha und Thailand heraus. Seit den 1990er Jahren werden politische Reformen in Angriff genommen und der Tourismus ist mittlerweile einer der aufstrebenden Wirtschaftszweige und Devisenbringer dieses Landes.
Simone Gründler, Gemeindebibliothek Heiden
Von Colin Cotterill bereits auf Deutsch erschienen:
Dr. Siri und seine Toten (2008), Dr. Siri sieht Gespenster (2009), Totentanz für Dr. Siri (2010), Briefe an einen Blinden (2011). Im Juni 2013 erscheint: Der fröhliche Frauenhasser.
Venditti, Robert; Huddlestone, Mike. The Homeland Directive. - Hamburg : Carlsen Verlag, 2013.
(ISBN 978-3-551-72968-2)
Davodeau, Etienne. Lulu - die nackte Frau. - Bielefeld : Splitter Verlag, 2012.
(ISBN 978-3-86869-560-1)
Graphic Novels – (aus)gezeichnete Romane
Graphic Novels sind Comics, die sich aufgrund ihres thematischen Anspruches und ihrer erzählerischen Komplexität vom herkömmlichen Comic unterscheiden und sich dadurch nicht mehr nur an Kinder und Jugendliche, sondern an erwachsene Leser richten.
Wie verschieden mit Inhalt und zeichnerischer Umsetzung umgegangen werden kann, zeigen die folgenden zwei Bücher hervorragend. Beide Exemplare gehören zum Bestand von rund 80 Graphic Novels der Bibliothek Teufen.
The Homeland Directive
"Wer bereit ist, grundlegende Freiheiten aufzugeben, um kurzfristig Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit." Diese Aussage von Benjamin Franklin steht zu Beginn des Politthrillers von Robert Venditti, in dem er die Frage nach dem Zusammenhang von Sicherheit und Freiheit stellt.
In diversen Städten der USA sterben Menschen, die mit einem gefährlichen Bakterium infiziert wurden. Gleichzeitig wird eine bekannte Mikrobiologin entführt. Als ihr Kollege darauf ermordet aufgefunden wird, gerät die junge Frau in ein Labyrinth aus Verrat und Intrigen. Zum Glück stellen sich ihre Entführer als FBI-Agenten heraus, die an eine grosse Verschwörung glauben. Ein unbarmherziger Wettlauf um Leben und Tod beginnt.
Dass der Leser in den verschiedenen Handlungsebenen und den vielen Figuren nicht den Überblick verliert, sorgt der Zeichner Mike Huddleston, der sich für jeden Schauplatz eine eigene Gestaltung ausgedacht hat. Mit dezenten Bleistiftzeichnungen, schwarz-weissen, aquarellfarbig und knallig kolorierten Figuren und Darstellungen gelingt es ihm hervorragend, den äusserst spannenden Thriller bildhaft zu unterstützen.
Lulu – die nackte Frau
In der wundervollen Geschichte greifen zwei Ebenen perfekt ineinander. Bei der ersten handelt es sich um Lulu. Vierzig Jahre alt, verlässt sie Mann und Kinder, um aus ihrem tristen Alltag auszubrechen, einfach um ein paar Tage allein zu sein. Nur eine kurze Unterbrechung in der Eintönigkeit der leeren Tage, denkt sie – und überrascht sich damit selbst. Lulu geniesst die Freiheit! Zurück bleiben ihre Familie und Freunde, die die ganzen Geschehnisse aus ihrer Perspektive in der zweiten Ebene erzählen. Durch sie erfährt man mehr über das Leben von Lulu, Unverständnis für ihr Handeln, aber auch viel Respekt vor dem Mut, sowohl eine gewisse Feindlichkeit als auch Wohlwollen und Sympathien ihr gegenüber kommen auf.
Mit seinem Werk hat Etienne Davodeau eine ruhige und nachdenkliche Geschichte mit eindringlichen Figuren geschaffen. Seine Zeichnungen sind natürlich und schlicht, kommen teils ohne Worte aus und sind auf allen 160 Seiten in orangen und hellen Blautönen gehalten. Dem Autor und Illustrator ist ein Meisterwerk der leisen Art gelungen.
Wort und Bild
Beiden Graphic Novels sind die ausdrucksstarken Gesichter der Figuren und die spannungsreiche Handlung gemeinsam. So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, gelingt es einem kaum, die Bücher wegzulegen, bevor man sie fertig gelesen hat. Und zurück bleibt nicht nur jede auf ihre Art bewegende Geschichte, sondern auch viele eindrucksvolle, farbige Bilder, die noch lange im Gedächtnis haften bleiben. Wahrscheinlich eine positive Eigenschaft von Graphic Novels, dass mehrere Hirnregionen aktiviert werden und Bild und Wort zu einem wunderschönen Ganzen verschmelzen, das noch lange nach dem Lesen wirkt!
Karin Sutter, Bibliothek Teufen
Fitzgerald, Francis Scott. Der grosse Gatsby. - Zürich : Diogenes, 2012.
(ISBN: 978-3-257-26103-5)
Der great Gatsby [Filmmaterial 1974] / dir. by Jack Clayton. - Unterföhring : Paramount Home Entertainment, 2009.
Der great Gatsby [Filmmaterial 2013] / dir. by Baz Luhmann. - Hamburg : Warner Home Video, 2013.
Der grosse Gatsby – der Buchklassiker als Verfilmung
Teil 1: Das Buch
Der Klassiker aus dem Jahre 1925 wurde zum fünften Mal verfilmt; Grund genug, dieses Buch wieder einmal zu lesen. Die Hauptthemen, um welche Scott Fitzgerald seine Geschichte konstruierte, sind die zeitlose Gier nach Geld, das egoistische Treiben der Schönen & Reichen auf Kosten der Unterschicht und, im Zentrum des Geschehens, eine grosse Liebe.
New York, 1922. Auf seinem Anwesen hat sich der schwerreiche und undurchschaubare Gatsby verschanzt und gibt dort regelmässig rauschende Partys. Hinter diesem inszenierten Jahrmarkt der Eitelkeiten jedoch versteckt sich nichts Anderes, als die ersehnte Rückeroberung von Gatsbys verlorener Jugendliebe: Durch seinen Reichtum hofft er, die mittlerweile unglücklich verheiratete Daisy wieder für sich zu gewinnen. Als die alte Leidenschaft zwischen den Beiden erneut aufflammt, geschieht ein Unfall, der alle Beteiligten ihre wahren Gesichter zeigen lässt.
Der kürzeste und zugleich erfolgreichste Roman von Scott Fitzgerald beginnt gemächlich und gewinnt mit jedem Kapitel, gleich einer startenden Dampflok der „Roaring Twenties“, mehr an Tempo und Dramatik. Meisterhaft schildert er den materiellen Überfluss und den emotionellen Überdruss der Reichen, die für ihre übersättigten Vergnügungen wenn nötig auch über Leichen gehen. Und mittendrin steht einsam Gatsby, der unverdrossen an die wahre Liebe glaubt.
Der ganze Roman ist letztendlich eine gelungene Gesellschaftskritik, die im März dieses Jahres im Zusammenhang mit der „Abzocker-Initiative“ einmal mehr äusserst aktuell wurde. Die literarische Spitze am Ende des Buches könnte deshalb auch an alle Manager mit exorbitanten Gehältern gerichtet sein: „Sie waren leichtfertige Menschen, sie zerstörten Dinge und Lebewesen, und dann zogen sie sich wieder in ihr Geld oder ihre grenzenlose Leichtfertigkeit zurück oder was immer es war, das sie zusammenhielt, und liessen andere das Chaos beseitigen, das sie angerichtet hatten...“
Teil 2: Die Filme
Endlos-Parties jedes Wochenende, Alkohol in Strömen, Mode, Glitzer, Glamour, Musik, die kein persönliches Gespräch zulässt... Nein, keine Beschreibung aus der Gegenwart, sondern ein Gesamteindruck aus der letzten Verfilmung des ‹Grossen Gatsby› mit Leonardo di Caprio und Carey Mulligan in den Hauptrollen. Im Gegensatz zum Film von 1974 mit Robert Redford und Mia Farrow, der abgesehen vom schockierenden Ende mehr ruhig und erzählend dahinfliesst, werden Zuschauerinnen und Zuschauer hier schnell ein Teil der Szenerie. Ein Strudel an Tönen, schrillen Farben, künstlich wirkenden Szenenausstattungen, rasanten Autofahrten, atem- und sinnlosen Dialogen und dazu der 3D-Effekt lassen keine Pause und kein Nachdenken zu. So ist der Absturz in die unausweichliche Katastrophe umso frappanter und tragischer und lässt einen betroffen zurück, selbst wenn man die Geschichte bereits kennt. Eine zeitlose Kritik an überbordendem Luxus, Geldgier und Oberflächlichkeit der Gesellschaft, in der wirkliche Liebe keinen Platz hat, da sie nicht käuflich ist.
Gerold Ebneter & Iris Schläpfer, Mediathek der Kantonschule Trogen
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